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Zitate

Unterwachung

Unterwachung –das ist ein neues Wort, ein seltsames Thema. Daher zunächst einige Worte der Begründung, wie ich gerade darauf gekommen bin. Mein Berufsweg hat mich aus einem durch Vorgesetzte bestimmten Arbeitsbereich in ein nahezu vorgesetztenloses Dasein geführt. Dabei habe ich zu spüren bekommen, daß jetzt etwas fehlt. Nicht nur die starke Schulter, an der man sich gelegentlich anlehnen und ausweinen kann. Vorgesetzte sind für den Untergebenen nicht nur Schutz und Trost. Vielmehr sind sie ein wichtiges, vielfältig verwendbares Werkzeug bei der Durchsetzung von Plänen und Absichten. Wer ohne Vorgesetzte lebt, muß –sofern überhaupt aktiv –sich in vielen und weitverstreuten Beziehungen selbst durchsetzen. Wer einen Vorgesetzten hat, kann seinen Außenverkehr bei diesem konzentrieren, statt Kraft und Zeit auf viele, ständig wechselnde Querköpfe zu verschwenden, er kann Geist und Geschick sozusagen an einer Stelle konzentriert einsetzen und in die Beziehung zum Vorgesetzten etwas investieren, um aufgrund dieser Beziehung dann diese Potenz zu benutzen – ohne ihm damit notwendigerweise auch den Ärger abzunehmen. Natürlich konzentrieren sich mit den Chancen auch die Risiken. Manche Vorgesetzte erweisen sich als so unkooperativ, so schwierig oder auch so ungeschickt, daß es besser wäre, die Fäden selbst in die Hand zu nehmen. (Luhmann 2016)

Luhmann, Niklas (2016): Der neue Chef. 2. Auflage. Hg. v. Jürgen Kaube. Berlin: Suhrkamp.

Delegation und politischer Fetischismus

Die Delegation, durch die eine Person einer anderen, wie es heißt, die Vollmacht erteilt, die Machtübertragung, durch die der Mandant den Mandatsträger ermächtigt, an seiner Stelle zu unterzeichnen, an seiner Stelle zu handeln, an seiner Stelle zu sprechen, ihm Prokura erteilt, da heißt die plena potientia agendi, die uneingeschränkte Vollmacht, für ihn zu handeln, ist ein komplexer Akt, der weitgehende Reflexion verdient. Bevollmächtigter – Minister, Mandatsträger, Delegierter, Sprecher, Abgeordneter Parlamentarier – ist, wer ein Mandat, einen Auftrag oder eine Vollmacht besitzt, um die Interessen einer anderen Person oder Gruppe zu repräsentieren – ein vieldeutiges Wort -, das heißt darzustellen, sichtbar zu machen, zur Geltung zu bringen. Wenn »delegieren« also bedeutet, jemanden durch Übertragung eigener Macht mit einer Funktion, einem Auftrag zu betrauen, so bleibt doch die Frage offen, wie es geschehen kann, dass der Beauftragte Macht über den gewinnt, der ihm die Macht verleiht. (Bourdieu 2013, S. 23)


Bourdieu, Pierre (2013): Politik. Erste Auflage. Hg. v. Franz Schultheis und Stephan Egger. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2056).

Die Hoffnung auf die Erziehung

Es ist heute bereits schwierig geworden, das Problem zu erkennen, das das 18. Jahrhundert bewogen hat, so viel Hoffnung auf Erziehung zu setzen. Wir vermuten, dass es sich um eine sehr genau zu bezeichnende Paradoxie gehandelt hatte. Einerseits hatte man »den Menschen« als Individuum entdeckt (oder: »erfunden«), um mit dieser Figur die alten Einteilungen der Schichtung, der Regionen und Nationen, der Patron/Klient-Verhältnisse, der Berufe und der Konfessionen und Sekten aufzulösen. Sowohl in den Erkenntnistheorien als auch im Bereich der Künste und im Bereich der Moral hatte man, Locke folgend, die Vorstellung angeborener Ideen aufgegeben und damit auch auf die Möglichkeit verzichtet, Geburt als differenzierendes Kriterium für das Erkennen des Guten und Richtigen anzunehmen. Das musste jedoch dazu zwingen, jeden Rückgriff auf unbedingt geltende Standards aufzugeben. Denn solche Kriterien hätten dazu geführt, Meinungskonflikte für rational entscheidbar zu halten mit der weiteren Konsequenz sozialer Diskriminierung. Einige wissen und können es besser als andere, – aber wie das, wenn alle Individuen sind und von Natur aus frei und gleich ausgestattet sind? Kurz gesagt: Absolute Kriterien des Wahren, Guten und Schönen setzen als Sozialform stratifikatorische Differenzierung voraus (was natürlich nicht ausschließt, dass es in jeder Schicht Versager gibt). Die Logik des modernen Individualismus erfordert deshalb den Verzicht auf solche Kriterien. Genau das konnte man aber im 18. Jahrhundert weder sehen noch zugeben. Die Lösung suchte man einerseits mit neuen Unterscheidungen, etwa Lust/Unlust oder Nutzen/Schaden, die das Kriterienproblem hinausschoben und die Vermutung zuließen, es könnte empirisch gelöst werden. […] Und es gab schließlich die Hoffnung auf Erziehung. (Luhmann 1996, S. 16)


Luhmann, Niklas (Hg.) (1996): Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pädagogik. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (/Suhrkamp-Taschenbuch / Wissenschaft] Suhrkamp-Tachenbuch Wissenschaft, 1239).

Öffentliche Erziehung

Seitdem die pädagogische Diskussion von der häuslichen Erziehung zur öffentlichen Erziehung in Schulen, also zu organisierter Erziehung, umgeschwenkt ist, (seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts also), steht auch der öffentliche Bedarf und der öffentliche Nutzen der Erziehung im Vordergrund der Diskussion. Zwar werden humane Legitimationsformeln wie menschliche Perfektion oder Bildung noch mitgeführt, wenn es darum geht, die (relative) Autonomie der Schulerziehung zu begründen. Aber der Einsatz öffentlicher Mittel und ebenso die Rücksicht auf die gesellschaftliche Lebensführung der Individuen verlangen eine Thematisierung von Erziehungszielen, die darüber hinausgeht. (Luhmann 1996, S. 15)


Luhmann, Niklas (Hg.) (1996): Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pädagogik. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (/Suhrkamp-Taschenbuch / Wissenschaft] Suhrkamp-Tachenbuch Wissenschaft, 1239).

Können Sie mir folgen?

Zu den Besonderheiten struktureller Kopplung Bewusstsein-Kommunikation gehört, dass auf beiden Seiten autopoietische Systeme beteiligt sind. Es geht also nicht um die Kopplung eines autopoietischen Systems an invariante Gegebenheiten seiner Umwelt – so wie die Muskulatur von selbstbeweglichen Organismen abgestimmt ist auf die Anziehungskraft des Erdballs. Auch im Verhältnis Bewusstsein/Kommunikation gibt es einige strukturelle Invarianten, zum Beispiel die Grenzen des Tempos der Änderung von Bewusstseinszuständen, die die Kommunikation nicht überfordern darf. (Luhmann 2015, S. 105)


Luhmann, Niklas (2015): Theorie der Gesellschaft. 1. Aufl., [9. Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1360).

Bildungsgerechtigkeit

Könnte es anders sein? Das Erziehungssystem muss – abgesehen von seinen sonstigen Funktionen – Individuen hervorbringen, die ein für alle Mal und für das ganze Leben ausgewählt und in eine Rangordnung eingestuft sind. Wenn man innerhalb dieser Logik soziale Privilegien oder Nachteile berücksichtigen und den Anspruch erheben wollte, die Individuen nach ihrem tatsächlichen Verdienst, das heißt, gemessen an den überwundenen Hindernissen einzustufen, bedeutet das in letzter, bis zum Absurden getriebener Konsequenz entweder einen Wettbewerb nach Klassen (wie beim Boxkampf), oder man wäre gezwungen – wie in der kantschen Verdienstethik -, den algebraischen Unterschied zwischen dem Ausgangspunkt, das heißt den gesellschaftlich bedingten Möglichkeiten, und dem Endresultat, das heißt dem an ablesbaren Prüfungsergebnissen ablesbaren Erfolg, zu messen, kurz gesagt man müsste nach Handikap einstufen. (Bourdieu 2018, S. 222)


Bourdieu, Pierre (2018): Bildung. Erste Auflage, Originalausgabe. Hg. v. Franz Schultheis und Stephan Egger. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 2236).

Die unwahrscheinliche Pädagogik 2

Die rationale Pädagogik müsste erst erfunden werden, und es wäre falsch, sie mit den heute bekannten pädagogischen Verfahren zu verwechseln, die, auf bloßen psychologischen Grundlagen beruhend, de facto einem System dienen, das soziale Ungleichheit übersieht und übersehen will. (Bourdieu et al. (1971), S. 88)


Bourdieu, Pierre; Picht, Barbara; Passeron, Jean-Claude; Picht, Robert ((1971)): Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart: Klett ((Texte u. Dokumente zur Bildungsforschung)).

Sprache

Im evolutionären Kontext gesehen ist Sprache eine extrem unwahrscheinliche Art von Geräusch, das eben wegen dieser Unwahrscheinlichkeit hohen Aufmerksamkeitswert und hochkomplexe Möglichkeiten der Spezifikation besitzt. Wenn gesprochen wird, kann ein anwesendes Bewusstsein dieses Geräusch leicht von anderen Geräuschen unterscheiden und kann sich der Faszination durch laufende Kommunikation kaum entziehen (was immer es im unhörbaren eigenen System dabei denken mag). (Luhmann 2015, S. 110)


Luhmann, Niklas (2015): Theorie der Gesellschaft. 1. Aufl., [9. Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1360).

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