Erzählungen

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Kommunalpolitik – kein Interesse!? (Teil 1)

Verwaltungswissenschaft ist ein nettes Hobby. Hin und wieder stolpert man über Interessantes: Zum Beispiel ein Buch über die Notwendigkeit von Kommunalpolitikmarketing.

Eher ein Zufallsfund war die Veröffentlichung „Marketing für Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik – Kommunikations- und Partizipationsstrategien für das Gemeinwohl vor Ort“ von Thomas Meyer-Breyländer (Breyer-Mayländer, 2019).

Der Autor konstatiert im ersten Kapitel „Sachstand und Problemstellung: Das (Des)-Interesse an kommunalen Themen“, es gäbe zwar ein Interesse an lokalen Geschehnissen. Er beruft sich unter anderem auf eine Allensbach-Studie, die leider aufgrund der lückenhaften Quellenangabe nicht nachrecherchierbar war. Aber da gibt es dennoch etwas recht aktuelles bei Statista von Allensbach. Nämlich: das Interesse der Bevölkerung in Deutschland an lokalen Ereignissen bzw. dem Geschehen am Ort von 2018 bis 2022 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/170952/umfrage/interesse-fuer-lokale-ereignisse/. Es lässt sich jedenfalls aus diesen Daten in diesem Zeitraum erst einmal kein abnehmendes Interesse an lokalen Geschehnissen festmachen. Allerdings – lokales Geschehen ≠ Kommunalpolitik. Und so verweist auch Breyer-Mayländer auf die Wahlbeteiligung, die auf kommunaler Ebene nicht gerade für ausgeprägtes Interesse Kommunalpolitik spricht. Der Autor nennt als weitere Belege die These des Desinteresses an Kommunalpolitik weiter mit dem zunehmenden „Fachkräftemangel“, also der abnehmenden Bereitschaft, sich zur Wahl um politische Ämter zu stellen, kommunalpolitisch zu engagieren. Im Beitrag werden als mögliche Ursachen eine sehr starke Konsensorientierung in der Lokalpolitik und die Veränderungen in der Medienlandschaft, die unter anderem zu einer Verdrängung und Schrumpfung der Lokalberichterstattung über Kommunalpolitik führten und führen, benannt Diese Konsensorientierung sei vor allem in kleineren Gemeinden zu verzeichnen.

Hier zeigen sich erste Widersprüche. Die Wahlbeteiligung ist gerade in kleineren Städten und Gemeinden eher höher als in großen Städten. Damit ist der Zusammenhang, Politik ist zu konsensorientiert und deshalb ist die Motivation zu wählen geringer, zumindest zu hinterfragen. Auch die Verdrängung der Lokalberichterstattung als Faktor für Desinteresse an Kommunalpolitik ist eine etwas steile These, die man dann doch genauer überprüfen müsste. Jedoch: die These, dass sich Menschen interessieren sich sehr wohl für das, was in ihrem Umfeld passiert, allerdings eben nicht unbedingt für Kommunalpolitik, würde ich unterstützen. Und dass es hier nicht nur um ein mit Marketing behebbares Imageproblem, sondern um den fundamentalen Ansatz der demokratischen kommunalen Selbstverwaltung geht.

Partizipationsparadox

Die Wahlbeteiligung insbesondere auf kommunaler Ebene hat tatsächlich abgenommen (Grotz, Schroeder, 2021). Trotz des Ausbaus der politischen Beteiligungsmöglichkeiten ist die Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene am stärksten zurück gegangen (Vetter und Remer-Bollow 2017, S. 196).

Wahlbeteiligung an Bundestags-, Landtags-, Kommunalwahlen und Wahlen zum Europäischen Parlament, 1946 und 2012 (in Prozent). Quelle: Vetter, A., Remer-Bollow, U. (2017)

Auch das Vertrauen in die kommunalen Institutionen hat deutlich abgenommen. Restriktiv und vertrauensmindernd wirken insbesondere die Ausdünnung kommunaler Angebote freiwilliger öffentlicher Leistungen aus finanziellen Gründen und und Maßnahmen des staatlichen Gesetzgebers, die einen Rückbau von Wohlfahrtsstaatlichkeit beinhalten, die durch die kommunale Ebene vollzogen werden müssen. (Holtmann 2013, S. 793) Hiermit ist also die These widerlegt, es zähle allein das Sparsamkeitsdogma und die Wählenden belohnten dies. Tun sie eben gerade nicht.

Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich innerhalb und zwischen den Kommunen. Innerhalb der Städte ist insbesondere ist vor allem die soziale Lage entscheidend. Man kann es auf die Formel bringen: Je prekärer die soziale Situation in einem Stadtteil, desto geringer fällt dort die Wahlbeteiligung aus. Und: wirksam ist das, was sich als soziale Kontrolle beschreiben lässt. In kleineren Gemeinden, wo die Akteur*innen personlich bekannt sind, ist die Wahlbeteiligung tendenziell höher als in Städten mit mehr Anonymität (Heinisch und Mühlböck 2016).

 Politisches Desinteresse? Eher nicht. So genannte vordemokratische Verfahren haben zugenommen. Der Bürgerbegehrensbericht 2020 von Mehr Demokratie e.V. zeigt, dass in größeren Städten überdurchschnittlich häufig Bürgerbegehren und Ratsreferenden stattfanden:

„In Deutschland haben 70 Prozent aller Gemeinden weniger als 5.000 Einwohner/-innen. In diesen kleinen Gemeinden wurden jedoch nur 31 Prozent aller Verfahren durchgeführt. 14,6 Prozent aller Verfahren fanden in größeren Städten und Landkreisen mit mehr als 50.000 Einwohner/innen statt. Diese machen lediglich 6,1 Prozent aller Gemeinden und Landkreise aus – ziehen also überdurchschnittlich viele Verfahren auf sich.“

2020-09-28_Bu__rgerbegehrensbericht_Web.pdf (mehr-demokratie.de)https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2020-09-28_Bu__rgerbegehrensbericht_Web.pdf

Warum das so ist, begründen die Autor*innen wie folgt:

„- In kleinen Gemeinden haben die Bürger/innen bessere Einflussmöglichkeiten auf die „etablierte“ Politik als in größeren Städten. Die Kommunikation ist einfacher und direkter, Probleme und Konflikte können so frühzeitiger erkannt und diskutiert werden. Es kommt gar nicht erst zu einem Bürgerbegehren.

– Erkenntnisse der politischen Kulturforschung zeigen, dass in vielen kleinen Gemeinden Pflicht und Akzeptanzwerte dominieren. Die etablierte Politik und die lokalen Autoritäten werden so weniger in Frage gestellt. Die Folge: Bürgerbegehren werden seltener angewandt.

– Mit der Einwohnerzahl wachsen die Aufgaben einer Kommune. Es gibt somit mehr potenzielle Themen für Bürgerbegehren – etwa Bäder, Kitas, Schulen oder Jugendeinrichtungen.“

2020-09-28_Bu__rgerbegehrensbericht_Web.pdf (mehr-demokratie.de)

Im Zweifelsfall bedienen sich die Bürger*innen einer größeren Stadt also eher vordemokratischer Verfahren als dem Wahlrecht und dann gleicht sich das alles irgendwie aus? So einfach ist es dann auch wieder nicht. Politische Partizipation hängt sehr stark mit dem sozioökonomischen Status zusammen. Nichtwähler*innen sind nicht unbedingt diejenigen, die als Ausgleich ein Bürgerbegehren auf den Weg bringen. Es bleibt komplex.

bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwohl

Breyer-Mayländer geht in seinem Buch auch auf das bürgerschaftliche Engagement ein. Denn oftmals bringen sich Engagierte auch in Beteiligungs. und Entscheidungsprozesse ein. Bürgerschaftliches Engagement ist ein so strapazierter wie unklarer abgegrenzter Begriff für freiwilliges Engagement – Retter der Demokratie, Basis des Gemeinwesens. Die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ definiert bürgerschaftliches Engagement folgendermaßen:

Bürgerschaftliches Engagement ist eine freiwillige, nicht auf das Erzielen eines persönlichen materiellen Gewinns gerichtete, auf das Gemeinwohl hin orientierte, kooperative Tätigkeit. Sie entfaltet sich in der Regel in Organisationen und Institutionen im öffentlichen Raum der Bürgergesellschaft. Selbstorganisation, Selbstermächtigung
und Bürgerrechte sind die Fundamente einer Teilhabe und
Mitgestaltung der Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungsprozessen. Bürgerschaftliches Engagement schafft Sozialkapital, trägt damit zur Verbesserung der gesellschaftlichen Wohlfahrt bei und entwickelt sich, da es von den Bürgerinnen und Bürgern ständig aus der Erfahrung ihres Lebensalltags gespeist wird, als offener gesellschaftlicher Lernprozess. In dieser Qualität liegt ein Eigensinn, der über den Beitrag zum Zusammenhalt von
Gesellschaft und politischem Gemeinwesen hinausgeht.

BERICHT
DER ENQUETE-KOMMISSION
„ZUKUNFT DES BÜRGERSCHAFTLICHEN ENGAGEMENTS“, 2002 14_8900_GESAMT.PDF (BUNDESTAG.DE)

Im Bericht der Enquete-Kommission heißt es weiter:

Jedoch ist nicht jedes freiwillige, nicht auf Gewinn gerichtetes Engagement als bürgerschaftliches Engagement zu bezeichnen. […] Engagement z.B. von radikalen Gruppen, das darauf gerichtet ist, der Bürgergesellschaft zu schaden oder Gruppen aus ihr auszugrenzen, fällt nicht unter den Begriff „bürgerschaftliches Engagement“. Gleiches gilt für nach außen abgedichtete Beziehungsnetzwerke, die dazu benutzt
werden, Sonderinteressen durchzusetzen.

BERICHT
DER ENQUETE-KOMMISSION
„ZUKUNFT DES BÜRGERSCHAFTLICHEN ENGAGEMENTS“, 2002 14_8900_GESAMT.PDF (BUNDESTAG.DE)

Was aber ist nun Gemeinwohl? Auch dieser Begriff ist so überstrapaziert wie unscharf. Die Unschärfe

… ergibt sich vielmehr schon daraus, dass wir es in Gemeinwohldiskursen mit einem ganzen Bündel oder einer Familie von Begriffen zu tun haben, deren angemessene Verwendung jeweils abhängt von der sozialen Gruppe, über die gesprochen wird. […] Wenn also vom Wohl oder Interesse einer Gruppe die Rede ist, muss präzisiert werden, um was für eine und welche Gruppe es geht. Und was immer man genau unter einem Gruppeninteresse zu verstehen hat, klar ist, dass Gruppeninteressen konfligieren können: intern jeweils mit anderen Interessen derselben Gruppe und ihrer Mitglieder, extern mit den Interessen anderer Gruppen und von Nichtmitgliedern. Insoweit handeln Überlegungen zu Gruppeninteressen nicht nur von Fragen der kollektiven Identität und der Präferenz- oder Nutzenaggregation, sondern ebenso von Ressourcenallokation und -distribution.“

Hiebaum, C. (2021). Einleitung. In: Hiebaum, C. (eds) Handbuch Gemeinwohl. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21086-1_45-2  

Und am Ende steht die Entscheidung…

Bürgerschaftliches Engagement erfordert also unter Umständen Entscheidungen von kommunalpolitischen Entscheidungsträger*innen – den gewählten Vertreter*innen in den kommunalpolitischen Gremien. Über Anliegen. Zwischen konkurrierenden oder gar gegensätzlichen Interessen. Das ist kann für beide Seiten recht spaßbefreit sein. Auch deshalb, weil die Vertreter*innen in den kommunalpolitischen Gremien Entscheidungen nur innerhalb bestimmter Grenzen treffen können. Sie sitzen gewissermaßen zwischen allen Stühlen.

Strukturmodell der bundesdeutschen Kommunalverfassung. Quelle: Grotz, F., Schroeder, W. (2021). Politik und Verwaltung auf kommunaler Ebene. In: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-08638-1_14

Fortsetzung folgt.

Literatur:

Breyer-Mayländer, T. (2019). Marketing für Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik. essentials. Springer Gabler, Wiesbaden.

Grotz, F., Schroeder, W. (2021). Politik und Verwaltung auf kommunaler Ebene. In: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Springer VS, Wiesbaden.

Heinisch, R., Mühlböck, A. Auf die Größe kommt es an! Neue empirische Evidenz zur Wahlbeteiligung in Gemeinden. Z Vgl Polit Wiss 10, 165–190 (2016).

Holtmann, E. (2013). Parteien auf der kommunalen Ebene. In: Niedermayer, O. (eds) Handbuch Parteienforschung. Springer VS, Wiesbaden.

Holtmann, E., Rademacher, C., Reiser, M. (2017). Folgen lokale Wahlen ihren eigenen Gesetzen?. In: Kommunalpolitik. Elemente der Politik. Springer VS, Wiesbaden.

Vetter, Angelika, und Uwe Remer-Bollow. 2017. Bürger und Beteiligung in der Demokratie: Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

Vetter, A., Remer-Bollow, U. (2017). Wahlen und Wahlbeteiligung. In: Bürger und Beteiligung in der Demokratie. Grundwissen Politik. Springer VS, Wiesbaden.

Wahlanalysen

können manchmal ziemlicher Blödsinn sein, da werden Wahlbeteiligung und Stimmanteile bei der Bundestagswahl mit denen bei einer Oberbürgermeisterwahl zusammengebracht und aus den Unterschieden irgendwelche Tendenzen herausgelesen.

Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg spricht im Monatsblatt 3/2019 von einer Wahlbeteiligungshierarchie. Das heißt: Die Beteiligung an Wahlen in Deutschland unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Wahlarten deutlich, am höchsten rangiert die Bundestagswahl, am Ende der Wahlbeteiligungskette kommen Europawahl, dann die Kommunalwahl und ganz zum Schluss die Bürgermeisterwahl. Der langhöchsten rangiert die fristige Trend verweist auf einen Rückgang insgesamt und (!) je kleiner die Gemeinde, desto höher die Wahlbeteiligung und umgekehrt. „Die niedrigsten Beteiligungsquoten werden in Städten mit 50 000 bis unter 100 000 Einwohnern (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 36,7 %) und in Großstädten von 100 000 bis unter 500 000 Einwohnern (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 36,1 %) gemessen.“ Ausnahme: Stuttgart.

Quelle: https://statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/PDF/Beitrag19_03_05.pdf…

Für Sachsen habe ich solche Erhebungen nicht gefunden, aber es ist eine Recherche wert.

Wie erklärt sich das? Grundsätzlich scheint es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Kandidierenden und der Wahlbeteiligung zu wählen. Kurz gefasst: weniger Auswahl – weniger Wählende. Eine Studie zu den Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg zeigte, einen Zusammenhang zwischen der Knappheit des Ergebnisses und der Wahlbeteiligung. Übersetzt: Spannung erhöht die Beteiligung. Erscheint den potentiellen Wählenden die Wahl schon entschieden, dann gehen sie nicht zur Urne. Man könnte hier weiter interpretieren: sind Wählende nicht überzeugt von den Chancen derjenigen Person, die sie aufgrund ihrer Einstellungen und Haltungen am ehesten ihre Stimme geben würden, so lassen sie es unter Umständen sein. Wahlkopplung hilft, es gibt also auch bei Wahlen Mitnahmeeffekte. Würden also Bürgermeisterwahlen (am wenigsten interessant) zeitgleich mit der Bundestagwahl (hochinteressant) stattfinden, entspräche die Wahlbeteiligung bei der Bürgermeisterwahl der Beteiligung bei der Bundestagswahl.

Auf der Individualebene zeigt sich: arme Menschen gehen seltener zur Wahl. Ein (gefühlt) gutes Einkommen geht einher mit der Zufriedenheit mit der Demokratie und wirkt sich positiv auf die Motivation aus, wählen zu gehen. Das aber hat eine gewisse Tragik.

Etwas zum Nachlesen: Walther, J. (2017). Faktoren zur Erklärung von Wahlbeteiligung und Kandidatenzahl. In: Mehrheitswahlsysteme . Springer VS, Wiesbaden.

So ganz bestätigen sich die Baden-Württemberger Erkenntnisse nicht. Europa scheint für die Dresdner Wählenden doch weit weg, dennoch lässt sich eine Wahlarthierarchie auch hier feststellen. 2024 wird sich zeigen, ob die Wahlbeteiligung auf dem Niveau von 2019 verbleibt.

Quelle: Landeshauptstadt Dresden, Kommunale Statistikstelle (Wahlen | Landeshauptstadt Dresden)

Wer regiert hier wen?

Verwaltungswissenschaft ist ein nettes Hobby. Hin und wieder stolpert man über Interessantes:

„Im Zuschnitt der Befugnisse des Gemeinderates unterscheiden sich die Gemeindeordnungen der Bundesländer nicht unerheblich. Wird ein Index der institutionellen Stärke der Ratsvertretungen gebildet, so stehen die Räte in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein vergleichsweise stark da. Sachsen und Bayern bilden bei dieser Rangfolge das Schlusslicht.“

Quelle: Holtmann, E., Rademacher, C., Reiser, M. (2017). Wer regiert, wer kontrolliert? Verteilung der Macht im kommunalen Entscheidungsdreieck von Rat, Bürgermeister und Verwaltung. In: Kommunalpolitik. Elemente der Politik. Springer VS, Wiesbaden.

Ebenfalls interessant: der Autor spricht von einer Tendenz zur „Präsidentialisierung“ von Kommunalpolitik und von einer unechten, mindestens aber schiefen Gewaltenteilung in der kommunalen Selbstverwaltung. Denn einerseits habe ein Bürgermeister (erhebliche) Eingriffsrechte im Hinblick auf die Entscheidungen des Gemeinderates – umgekehrt kann der Rat den Bürgermeister beispielsweise nicht abwählen. Insgesamt verlören die Gemeinderäte an Macht und Einfluss, wenn man die Instrumentarien und Strukturen betrachtet. In der Selbstwahrnehmung sei dies jedoch nicht so. In Befragungen habe sich ergeben, die Mitglieder von Gemeinderäten bescheinen sich selbst großen Einfluss. Die Ratsmitglieder halten sich also für einflussreicher, als sie es tatsächlich formal sind. Es gibt wohl wenig Forschung darüber, dennoch lohnte die Frage, wie dies in der Wahrnehmung der Bürger*innen sich darstellt. Betrachtet man die Wahlbeteiligung, so liegen Kommunal- und Bürgermeisterwahlen am Ende der Beteiligungskette. Nimmt man die Wahlbeteiligung als Indikator für die Wichtigkeit, so sind Stadtrat und Bürgermeister den Wähler*innen am egalsten.

An dieser Stelle könnte man schon zu ein paar Interpretationen und Hypothesen kommen. Ich lese weiter.

„Die bürgerliche Mitte“

In Wahlkämpfen ganz besonders hat die bürgerliche Mitte Konjunktur. Klingt gut. Bürgerlich. Mitte. Wohlfühlen. Bodenständig. Nun also: Was oder wer ist diese mystische bürgerliche Mitte, immer dann benannt, wenn gefühlt eine Quasimehrheit als Referenzrahmen für Machtansprüche angerufen werden soll. Der Mensch tendiert irgendwie zur Mitte. Mitte klingt so ausgewogen und gemütlich und kuschelig. Am Rande der Gesellschaft ist es ungemütlich, da droht Exklusion (oder Exklusivität), politisch müsste man sich irgendwie positionieren. Wo also ist die bürgerliche Mitte und wo sind die nichtbürgerlichen oder unter-, ober-, links- oder rechtsbürgerlichen Nichtmitten?

Es geht um Menschen. Und es scheint um Menschen mit gewissen Ähnlichkeiten zu geben, Ähnlichkeiten in politischen Einstellungen und in ihrer Lebenswelt. Wir reden von Schichten, Klassen, Milieus oder – ganz im Duktus der bürgerlichen Mitte: „Lebenswelten“. Es gibt eine ganze Reihe theoretischer Ansätze, die sich mit der Frage ähnlicher Lebenswelten befassen. Bekannte Namen dürften Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Stefan Hradil, Helmut Bremer, Emile Durkheim, oder Gerhard Schulze sein. Es heißt zwar immer, mit Soziologie kann man bestenfalls in einer Bar oder als Taxisfahrer arbeiten, man kann aber mit Soziologie auch richtig Geld verdienen, in dem man ein Modell wirtschaftlich nutzbar macht. Stichwort Zielgruppenforschung. Die Sinus-Milieus sind der nach eigener Aussage der „Goldstandard der Zielgruppensegmentation“ und fassen „Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu Gruppen Gleichgesinnter zusammen„. (An der Stelle sei erwähnt: als Sozialwissenschaftlerin hege ich eine gewisse Skepsis gegenüber diesem Geschäftsmodell, aber das tut an dieser Stelle nichts zur Sache.) Und siehe da, es GAB ein Milieu mit dem Namen „bürgerliche Mitte“. 2019 wurde die bürgerliche Mitte noch so beschrieben:

Leitmotiv des Milieus ist „das Erreichte sichern“ – was allerdings schwer fällt in Zeiten, in denen die Zukunft immer weniger planbar scheint. Tatsächlich breitet sich in der Bürgerlichen Mitte zunehmend Verunsicherung und Furcht vor sozialem Abstieg aus: Angst, nicht mehr mitzukommen (technologisch, finanziell), den Anforderungen steigender Komplexität (Digitalisierung) und Diversität (Zuwanderung) nicht mehr gerecht werden zu können – mit der Folge wachsender Unzufriedenheit und Erschöpfung sowie verstärkter Cocooning- und Abschottungstendenzen.

Hempelmann, H., Flaig, B.B. (2019). Die Bürgerliche Mitte. In: Aufbruch in die Lebenswelten. Springer VS, Wiesbaden. S. 117

Die Abschottungstendenzen merken wir uns. Weiter heißt es:

Diese Befindlichkeit ist in der Kommunikation mit der Bürgerlichen Mitte mit zu berücksichtigen. Die Kommunikation sollte keine Störimpulse setzen und
nicht allzu elaboriert und herausfordernd sein. […]. Leitmotive der Ansprache könnten sein: gesicherte Verhältnisse herstellen; das gute Mittelmaß finden; integriert sein und mitreden können; bodenständig, gesellig und lebensfroh bleiben.

HEMPELMANN, H., FLAIG, B.B. (2019). DIE BÜRGERLICHE MITTE. IN: AUFBRUCH IN DIE LEBENSWELTEN. SPRINGER VS, WIESBADEN. S. 117

Handelt es sich nun um eine Mehrheit? Dieses bürgerliche Mittenmilieu umfasste etwa 13% der Bevölkerung. (Quelle: Hempelmann, H., Flaig, B.B. (2019). Die Bürgerliche Mitte. In: Aufbruch in die Lebenswelten. Springer VS, Wiesbaden, S. 177ff.). Dreizehn Prozent. Und das Wahlverhalten?

2017 wurde von der Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit dem SINUS-Institut und YouGov das Wahlverhalten der sozialen Milieus bei einer Bundestagswahl analysiert. Ein Bild ist interessant:

Quelle: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/bundestagswahl-2017-wahlergebnis-zeigt-neue-konfliktlinie-der-demokratie

In dieser Studie wurde auch eine „neue Konfliktlinie der Demokratie“ identifiziert. Nämlich die zwischen Modernisierungsskeptikern versus Modernisierungsbefürwortern. (Wir erinnern uns an die Abschottungstendenzen).

„Die Ergebnisse dieser Studie weisen als Signatur der Bundestagswahl 2017 auf eine neue Konfliktlinie der Demokratie hin, die als diagonaler Riss durch die Mitte
der Gesellschaft verläuft. Als Diagonale trennt sie die Gesellschaft entlang der zwei definierenden Dimensionen der sozialen Milieus: Zum einen entlang der sozio-ökonomischen Dimension in eine Ober-, Mittel- und Unterschicht. Zum anderen in der Wertedimension entlang der Grundorientierungen der Tradition,
Modernisierung/Individualisierung und Neuorientierung. Auf der linken Seite der Diagonale befinden sich die Milieus der Modernisierungsskeptiker, auf der rechten Seite die Milieus der Modernisierungsbefürworter. Auf beiden Seiten der Diagonale befindet sich etwa die Hälfte aller Wahlberechtigten in Deutschland.
Auf der einen Seite der Konfliktlinie sind diejenigen Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen den ökonomischen, sozialen, technischen und kulturellen
Modernisierungstendenzen eher skeptisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Sie empfinden sich zumindest subjektiv als soziale, ökonomische und/oder
kulturelle Verlierer der Modernisierung. Das prägt auch ihr Wahlverhalten.
[…]
Auf der anderen Seite der Konfliktlinie befinden sich vor allem Menschen, die von den ökonomischen, sozialen, technischen und kulturellen Modernisierungstendenzen profitieren oder sich zumindest davon angezogen fühlen und damit überwiegend Chancen verbinden. Auch das prägt ihr Wahlverhalten. „

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Populaere_Wahlen_Bundestagswahl_2017_01.pdf

Eine Entwicklung, die tiefgreifend ist, denn in der Veröffentlichung der Sinus Milieus 2021 schreibt das Institut schließlich vom

Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten„. Weiter heißt es: „Das Adaptiv-Pragmatische Milieu rückt an die Stelle der abstiegsbesorgten Bürgerlichen Mitte ins Zentrum des gesellschaftlichen Mainstreams. Die Nostalgisch-Bürgerlichen ziehen sich in ihre Nische zurück und werden zunehmend systemkritisch.

Die neuen Sinus-Milieus® 2021 | SINUS-Institut

Auf Abschottung folgt also Systemkritik. Und wie beschreibt Sinus nun die neuen Milieus? Die ehemals bürgerliche Mitte rückt in die Ecke der Nostalgiker.

Nun spielt bei einer Wahlbeteiligung von um die 50% schon die Mobilisierung von Wählenden eine Rolle. Lässt sich da vielleicht was mit der bürgerlichen Mitte anfangen? Auch da gibts was von Sinus, nämlich eine Studie zur Wahlbeteiligung der verschiedenen Milieus zur Bundestagswahl 2017: Wahlbeteiligung sozialer Milieus bei Bundestagswahl | Statista. Spoiler: Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich deutlich und die damals noch jüngere bürgerliche Mitte war nicht der Spitzenreiter.

Und noch ein Zitat vom April 2021 in Bezug auf die Bundestagswahl, welches sich im Nachgang als nicht ganz so falsch erwiesen hat: „Wahlen werden nicht mehr in der Mitte gewonnen, sondern im Dreieck der Sinus-Milieus der Performer, Liberal-Intellektuellen und der beiden jungen Zukunftsmilieus der Expeditiven und Adaptiv-Pragmatischen. Entscheidend ist die Mobilisierung und die sowohl rationale als auch emotionale Anziehungskraft in diesen politisch interessierten und mental offenen Sinus-Milieus. Wahlentscheidend könnte sein, wer die Wanderungsströme dieser Milieus zwischen Grünen, CDU, FDP und SPD am besten für sich gewinnen kann„.

Sonntagsfrage: Grüne und Union sind größte Konkurrenten (sinus-institut.de)

Bildungsgerechtigkeit

Beim Stichwort Bildungsgerechtigkeit bekommen Finanzpolitiker: innen meist Schnappatmung, wird im politischen Diskurs jedenfalls immer ein „mehr“ von etwas damit verbunden, am besten von allem für alle. Aber ist das tatsächlich so, geht es um mehr von allem für alle und war es jemals so?

Es gibt eine Studie, die meines Erachtens viel zu wenig Beachtung erfahren hat: „Bekommen die sozial benachteiligsten Schüler*innen die „besten“ Schulen? Eine explorative Studie über den Zusammenhang von
Schulqualität und sozialer Zusammensetzung von Schulen am Beispiel Berlins“
. Möglich, dass durch die PISA-Sonderauswertung „Resilienz“ nur allzu gern die Beruhigungspille aufgegriffen wurde, es komme vor allem auf die gute soziale Mischung und ein positives Schulklima an und die Klassengrößen sowie die Ausstattung wären gar nicht so ausschlaggebend, eine bessere Ausstattung entfalte nur dann eine Wirkung, wenn sie den Lernprozess effektiv verbessert und das Gemeinschaftsgefühl stärkt. Eine Binsenweisheit, das Zauberwort heißt Didaktik.

Marcel Helbig und Kolleg: innen, deren Arbeiten ich unter anderem deshalb so schätze, weil sie den Finger in die Wunde legen, haben sich der Frage gewidmet, wie es denn um die Schulen „in benachteiligten Lagen“ bestellt ist. Schulen, in denen vorwiegend Schüler: innen lernen, deren Aufwachsensbedingungen mindestens als herausfordernd umschrieben werden können. Der Befund ist eindeutig: Aus Sicht der Schüler: innen ist auch der Schulalltag gekennzeichnet von Mangel und Unterversorgung. Krankenstände, häufige Wechsel und unbesetzte Stellen in der Lehrer: innenschaft. Die Unterrichtsabdeckung ist geringer. Zudem stellten die Autor: innen fest, dass zusätzliche Mittel für Brennpunktschulen nicht da ankommen, wo sie benötigt werden – oder sie werden nicht effizient eingesetzt oder sie reichen nicht.

Es geht also möglicherweise gar nicht um „mehr“ oder besser sondern die Frage müsste lauten: inwieweit sind Schulen mit Schüler: innen aus vorwiegend unterprivilegierten Milieus, die Schulen, die von Mittelschichtseltern und allen, die es sonst noch können, abgewählt werden, schlechter gestellt hinsichtlich der Lehrkräfte, der sächlichen Ausstattung, des Bauzustands, Schulbibliotheken? Man könnte es sogar noch deutlicher formulieren: Inwieweit unterscheiden sich diese Schulen in ihrer Qualität als Lernumgebung von anderen Schulen?

Eine kurze Recherche von Schulnetz- und Schulentwicklungsplänen deutet nicht darauf hin, dass es in Kommunen Baustrategien gibt, die systematisch Bildungsbenachteiligung im Blick haben – trotz der Anerkennung des Schulgebäudes als „drittem Pädagogen“. Im Schulnetzplan der Landeshauptstadt Erfurt findet man das Wort Bildungsgerechtigkeit beispielsweise nur zwei Mal.

Es scheint – warum auch immer – die Betrachtung schulischer Infrastruktur in Bezug auf die Qualität als Lernumgebung ein offener Punkt zu sein. Trotz der Vielzahl an Instrumentarien, einer Überfülle an Datenlagen, Berichten und Monitorings. Damit gäbe es aber einen weiteren Baustein, dem Mythos der Bildungsgerechtigkeit auf die Spur zu kommen.

Bildungsexpansion

Deutschland und die Bildungs(un)gerechtigkeit. Seit Pisa hoch und runter diskutiert, Corona hat der Debatte wieder Konjunktur verschafft. Ein recht aktuelles Beispiel skizziert, warum die Dinge sind wie sie sind und warum Veränderungen so langwierig und schwierig sind.

Was wissen wir über Bildungsungerechtigkeit. (Wärmstens empfohlen sei der „Mythos Bildung“ von Aladin El-Mafaalani, das Buch enthält alles, was man dazu wissen muss, sollte eigentlich für Bildungspolitiker*innen Pflichtlektüre sein.) Wir wissen, dass die soziale Herkunft und Lebenslage die Chancen auf Bildungserfolg und auf Teilhabe, sprich Chancen auf dem Arbeitsmarkt und ein hohes Einkommen, maßgeblich prägt. Statistisch macht man das oft am Bildungsabschluss der Eltern, v.a. der Mutter fest, an der Zahl der Bücher im Haushalt, der Frage ob Leistungen des SGB in Anspruch genommen werden. In unserer Gesellschaft herrscht das Bild vor, jeder Mensch habe, strenge er sich nur genug an, alle Chancen, nach oben zu kommen. Das ist ein sehr praktischer Mythos, lässt er doch die Verantwortung für den Platz, den jemand in einer Gesellschaft einnimmt, beim Individuum und blendet aus, dass es gesellschaftliche, soziale und psychische Mechanismen gibt, die sich nicht so ohne weiteres überwinden lassen. In der Konsequenz ergibt sich das Bild, arme Menschen seien schon so ein bisschen selbst schuld an ihrer Lage, gibt es doch so viele Maßnahmen, mit denen man ihnen helfen will. Und außerdem braucht eine Gesellschaft ja auch Bäcker oder Gebäudereiniger oder Hauswirtschaftlerinnen. Dieser zynisch anmutende Einschub ist ein Argument, was in bildungspolitischen Debatten so selten gar nicht ist und bei genauerer Betrachtung ist es so: unsere Gesellschaft lebt auch von Ungleichheit – und ein Teil davon ganz gut. Man könnte etwas daran ändern. Das hieße dann aber konsequent Umverteilung von Privilegien.

Und hier kommt die Bildungspolitik ins Spiel. Marcel Helbig hat einmal für Berlin die Schulqualität untersucht. Seine Frage war, „bekommen die sozial benachteiligsten Schüler*innen die besten Schulen?“.

„Insgesamt kommen wir zu dem Befund, dass die sozial am stärksten benachteiligten Schulen auch die ungünstigsten Rahmenbedingungen aufweisen. An sozial benachteiligten Schulen ist die Personalabdeckung schlechter, Unterricht muss häufiger vertreten werden oder fällt aus und an ihnen arbeiten mehr Lehrkräfte ohne Lehramtsstudium als an Schulen mit einer besseren sozialen Zusammensetzung. „ (ebd. S. 25/26)

Es gibt wahrscheinlich für nur sehr wenige große Städte Erhebungen oder Gesamtbetrachtungen zur Schulqualität. Was nicht daran liegt, dass es keine Daten gäbe. Eine solche Betrachtung wäre aber unbequem, denn sie zöge auf verschiedenen Ebenen Entscheidungen nach sich. Nämlich zuerst die grundsätzliche, ob tatsächlich diejenigen, die am meisten Unterstützung brauchen, diese auch bekommen sollen. Ich versichere, die Elternvertretungen würden den Politiker*innen deutlich aufs Dach steigen und genauso die Pädagog*innen und ihre Vertretungen den Ministerien oder Landesämtern. Anekdotische Evidenz aus einer „Gerechtigkeitsrunde“: „Jetzt ging es die ganze Zeit um sozial Schwache. Wir müssen aber auch an die anderen denken. Wir wollen für alle Kinder Bildungsgerechtigkeit“. Eine inhaltsschwere Äußerung.

Manchmal gibt es Gelegenheiten, die es auch ohne solchen politischen Sprengstoff erlaubten, bildungsgerechte Entscheidungen zu treffen. Es ist forschungsseitig gut belegt, dass die Bildungsentscheidungen, die Eltern im Laufe der Bildungsbiografie ihrer Kinder treffen, maßgebliche Weichenstellungen sind und sie treffen diese keineswegs inkompetent. Sondern immer adäquat zu ihrer Lebenslage, ihren eigenen Erfahrungen mit dem Bildungssystem, unter der Fragestellung, ob sie ihr Kind auch gut genug unterstützen können, ob das Kind in der jeweiligen Schule und Schulart auch klarkommt und bestehen kann. Und meistens ist es so, dass Eltern aus prekäreren Milieus ihre Kinder eher bremsen, also selbst bei einer Gymnasialempfehlung sagen, Kind, die Mittelschule ist auch ganz gut. (Das wäre auch nicht tragisch wenn nicht, wenn es dann um berufliche Teilhabe und ein gesichertes gutes Einkommen geht, doch wieder der Abschluss zählt. Es wird manchmal vergessen, dass allein der Erhalt des Status heute einen höheren Bildungsabschluss erfordert als ihn die ältere Generation erbringen musste). Es wäre also ein Weg, bei Bildungsentscheidungen anzusetzen und die Entscheidung in der Grundschule besonders den Kindern und Eltern zu ersparen, von denen eine eher zurückhaltende, bremsende Entscheidung zu erwarten ist. Und – und das wiegt noch schwerer – für die der Zeitpunkt der Entscheidung noch viel mehr zu früh ist. Führt dann ein Bundesland eine Schulform ein, die das ermöglicht, was läge näher, zu frage, wo gehen besonders viele dieser Kinder gemeinsam zur Schule, an welchen Schulen könnten wir denn eine Schulartänderung in Betracht ziehen (wohl wissend dass eine Schulartänderung nicht reicht). Dass damit vielleicht auch ein paar Pädagog*innen motiviert werden könnten, an diese Schule zu kommen und eine Lehrtätigkeit dort nicht abzulehnen und Eltern aus bildungsnahen Milieus der Schulart wegen sich für diese Schulen entschieden hätten wären plausibel vermutbare nette Begleiteffekte.

Aber nein. Gemeinschaftsschulen werden eine Universitätsschule und eine Neugründung. Weit weg von segregierten prekären Gebieten. Ein weiterer Beitrag zur Bildungsexpansion. Nicht aber für mehr Gerechtigkeit.

Präsenzbildungsgerechtigkeit

Noch nie wurde so viel über Bildungsgerechtigkeit gesprochen, noch nie so oft die Tatsache thematisiert und problematisiert, dass Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abhängt und dass es durchaus eine Anzahl Schüler*innen gibt, die aufgrund ihrer prekären Aufwachsensbedingungen in ihren Chancen auf Bildung (gemeint sind wohl verwertbare Bildungszertifikate, also ein auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verwertbarer Schulabschluss) eingeschränkt werden. Allein, es blieb bei der Problematisierung und als einzig hilfreiche Maßnahme sei die Öffnung der Schulen und die Rückkehr zum Präsenzunterricht.

Natürlich – die für deutsche Verhältnisse recht plötzliche Einführung bislang nahezu ausgeschlossener Unterrichtsformen auf Distanz, das Angewiesensein auf digitale Medien als Ersatz für Klassenzimmer, Polylux, Tafel und Kreide, führt zu einer Verschärfung der Ungleichheiten im Bildungssystem, führt dazu, dass soziale Ungleichheiten im Bildungssystem verstärkt werden. Familiär, aber auch einrichtungsbezogen. Es gibt nämlich nicht nur Bildungserfolgsbarrieren für die konkreten Lernenden, es gibt sie auch für Schulen. Der entscheidende Wettbewerbsfaktor ist die Kombination von Ausstattung und den Kompetenzen zum Einsatz. Das trifft für Familien ebenso zu wie für eine Schule. Ich bin nicht sicher ob es Erhebungen zum Einsatz digitaler Lehr/Lernmittel, der Ausstattung von Schulen und der Kompetenzen im Kollegium gibt, die Schulart, die soziale Lage und Sozialstruktur der Schüler*innenschaft der Schulen mit in Betracht ziehen. Die These: Die Schulen, die den höchsten Bildungsabschluss ermöglichen und die die potenteste Elternschaft (soziale Lage, Einkommen, Bildungshintergrund, Bildungsaspirationen) haben, stehen (im Regelfall) an der Spitze. Weil natürlich auch die Bildungsentscheidungen von Eltern wiederum etwas mit deren Bildungshintergrund, sozialer Herkunft und sozialem Status zu tun haben.

Die Situation belastet zunächst alle. Ob Schüler*innen tatsächlich solche horrenden Bildungsverluste erleiden, daran mögen Zweifel berechtigt sein, entscheidend ist wohl die Frage, wie viel potentiell prüfungsrelevantes Wissen wird nicht erworben. Denn Bildung findet immer statt. Nur eben nicht institutionalisiert. Der eigentliche Stress, so die nächste These, entsteht hauptsächlich dadurch, dass mit meist unzureichenden Mitteln Präsenzunterricht ersetzt werden soll.

Bemerkenswert ist nach all dem Drama um den heiligen Gral des Präsenzunterrichts: die mit Krokodilstränen beweinten benachteiligten Schüler*innen spielen in keinem der Öffnungskonzepte der Bundesländer eine Rolle. Es geht meist nur um die Frage, wer darf eher – die „beginners“ oder die „seniors“, die Lernanfänger*innen in Grundschulen oder die Abschlussklassen. Nichts ist zu lesen über Angebote für Schüler*innen, die zu Hause keine Unterstützung, keinen Schreibtisch haben und denen vielleicht irgend ein gleichzeitig strukturgebendes individuelles Angebot hülfe, zu denen die Lehrenden vielleicht auch zeitweise gar keinen Kontakt aufnehmen konnten. So ein Angebot wäre auch eine lohnenswerte Aufgabe für Lehramtsstudierende, und so etwas ginge durchaus auch digital.

Keine Rolle spielen ebenso die Schüler*innen, deren Herkunftssprache nicht deutsch ist und diese Sprache in den Familien auch nicht gesprochen wird. Diese Schüler*innen werden in ihrem Spracherwerb vermutlich so sehr zurückgeworfen, dass das Aufholen eine größere Aufgabe darstellen wird.

Man darf gespannt sein, was von der Aufmerksamkeit für das Thema Bildungsgerechtigkeit bleibt.

„Ich hätte mir gewünscht, dass ich früher gewarnt worden wäre.“

Dieser Satz ist ein Zitat des sächsischen Ministerpräsidenten in einem insgesamt sehr guten und wie ich meine durchaus „sprengstoffgeladenem“ Interview in der Freien Presse Kretschmer über Corona-Krise: „Wir waren im Herbst noch zu zögerlich“ (freiepresse.de). Ich kann nur wärmstens empfehlen, das Interview vollständig zu lesen, dafür lohnt sich auch der geringe Aufwand eines Testzugangs.

Weiter formuliert Kretschmer, ihm sei nicht klar gewesen, dass „das Personal in Aue schon seit sechs Wochen vor meinem Besuch am 11. Dezember am Limit arbeitete.“ Die gesellschaftliche Stimmung sei im November noch so gewesen dass ihn Bitten erreicht hätten, „doch dieses oder jenes zusätzlich zu öffnen. Mediziner auf Intensivstationen bemängeln zu Recht, dass auch heute noch ein gesellschaftlicher Konsens fehlt.“

Zuerst war ich etwas sprachlos, zugegeben, und dachte nur, was für eine unkluge Aussage. Es gibt sie zwar, diese Chef:innen, die auf die fachliche Kompetenz ihrer Mitarbeiter:innen keinen Deut geben und man sich als Mitarbeiter:in die Finger zuerst wund schreibt und den Mund fusselig redet, es irgendwann dann aber mal sein lässt und beide nicht mehr verbrennt. Dieser Grad an offensichtlicher Uninformiertheit oder Ignoranz lässt sich nicht mehr mit Inkompetenz im Mitarbeiter:innenstab oder fehlendem Vertrauen in selbigen erklären. In so einer dichten Filterblase hätte man vielleicht das Frühjahr überstehen können, nicht aber den Herbst. Auf der Karte von @risklayer war sächsische Landkreise zu der Zeit, als der Ministerpräsident so erschrocken sein will, längst schwarz:

https://twitter.com/risklayer/status/1336789533778714625?s=20

Und Sachsen hatte die Inzidenz-Spitzenreiterposition übernommen:

https://twitter.com/risklayer/status/1336840452750893056?s=20

Warnungen gab es übergenug in den klassischen und den sozialen Medien, der tägliche Pressespiegel dürfte Warnungen genug enthalten haben. Natürlich, es gab und es gibt Gegenwind, es gab und es gibt Menschen, die Corona nicht ernst nehmen, das sind bei weitem nicht nur die so genannten „Covidioten“. Und es gibt diese Menschen natürlich auch in Entscheidungs- und Führungspositionen. An dieser Stelle zeigt sich dann, was (Un)Belehrbarkeit heißt. Natürlich, es sind keine einfachen Entscheidungen, Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen zu verhängen und was Appelle an die Vernunft bringen, davon können Lehrer:innen ein Lied singen. Entscheidungen treffen zu müssen – echte Entscheidungen – sind wohl im Leben von Politiker:innen so ziemlich das Schwerste und Unangenehmste, was ihnen widerfahren kann. Solche Entscheidungen, die unmittelbare Folgen, tatsächliche Konsequenzen haben. Da wartet die eine Ebene gern auf die andere und am allerbesten ist es, wenn Entscheidungen, die zunächst weh tun und unangenehme Folgen haben, jemand anders getroffen hat, man selber „nur“ gezwungen ist, die Entscheidung weiterzugeben oder umzusetzen. Es ist an dieser Stelle unnötig, die ganze Historie des Umgangs mit Corona aufzuarbeiten, das können andere besser.

Herr Kretschmer hat – und das lässt am meisten aufmerken, in diesem Interview sein Kabinett und insbesondere seine Gesundheitsministerin ans Messer geliefert, die Ministerin, die seit Mitte Oktober, seit dem die Ministerpräsidenten sich wie unbelehrbare kleine Jungs aufführten und meinten, der Kanzlerin zu zeigen, dass sie die wahren Landesfürsten sind, erstaunlich still war. Es wird spannend, welche Kreise dieses Interview noch ziehen wird.

Schutzschild für Deutschland – ihr habt da was vergessen

Die Bundesregierung hat das „größte Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik“ beschlossen, mit dem die Auswirkungen der Corona-Pandemie bewältigt werden sollen. Verdienstausfälle, die sich aus dem Schul-und Kitaschließungen ergeben, sollen aufgefangen werden, der Zugang zum Kinderzuschlag erleichtert, ebenso für soziale Leistungen. Kleine Unternehmen, Selbständige, Freiberufler erhalten Unterstützung. Das gilt auch für die Kultur und Kreative https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/hilfen-fuer-kuenstler-und-kreative-1732438. Für soziale Dienstleister gilt der Sicherstellungsauftrag der öffentlichen Hand https://www.bmas.de/DE/Schwerpunkte/Informationen-Corona/sozialschutz-paket.html .

Wer aber in all den Hilfspaketen vergessen wurde, sind die Studierenden. Nicht alle Studierenden beziehen BAföG, wofür die Fortzahlung zugesichert werden soll. Viele, sehr viele Studierende sind darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, in dem sie neben den Studium arbeiten – und sie sind günstige Arbeitskräfte. Sie haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, meist keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Und sie haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen, wenn der Job weg ist. So manches Unternehmen ob nun in der Gastronomie, im Einzelhandel, in der IT-Branche, die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Viele dieser Jobs können aufgrund der Umsetzung des Infektionsschutzgesetzes nicht mehr ausgeübt werden. Das heißt, Studierende stehen – genauso wie viele andere auch, vor der Frage wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Ohne Anspruch auf Kurzarbeitergeld, ohne Anspruch auf Sozialleistungen.

Deutschland hat eine ganze Menge Kraft hineingesteckt, den Anteil der Studierenden, die aus weniger einkommensstarken Haushalten kommen, zu erhöhen. Das hat funktioniert. Dass die BAföG-Regelungen verbesserungswürdig ist hinlänglich bekannt. Das betrifft Einkommensgrenzen, das betrifft BAföG-Sätze. Universitätsstädte sind auch meist wirtschaftlich attraktiv, die Lebenshaltungskosten entsprechend. Die Argumentation, die Eltern sollten doch hier einspringen, ist etwas zu kurz gedacht. Die meisten werden das ohnehin schon tun, aber Corona macht auch vor den Auswirkungen von Eltern von Studierenden nicht halt.

Nun. Es ist nicht Ziel der Übung, Existenzfragen gegeneinander aufzuwiegen. Aber: Es wurde einfach mal eine sicherlich nicht kleine Gruppe an Betroffenen vergessen. Sollen sie doch in die Ernte, sollen sie sich einen anderen Job suchen, man hört die verschiedensten Gegenargumente und teilweise schon irrige Vorstellungen. Also: die primäre Aufgabe der Studierenden ist es: das Studium zu absolvieren und zwar zügig und möglichst ohne Verzögerungen. Ein Job ist keine Ausrede, ein Vollzeitstudium heißt nicht aus Spaß Vollzeit-Studium.

Die schöne neue Welt des Homeoffice

Eine Woche im Homeoffice. Dienstlich notwendig die Befassung mit Coronavirus, Covid-19, SARS-CoV-2, meine Filterblase in den sozialen Netzwerken hat verständlicherweise auch kein anderes Thema. Homeoffice ist nicht nur schön, noch lange nicht ist es wirklich etabliert und akzeptiert, oft gilts noch als eine Art Urlaub in Schreibtischnähe. Oder so. Mitnichten ist das so, das Abschalten funktioniert überhaupt nicht und das Hirn scheint sich mit all seiner Autonomie dagegen zu wehren und man ist dann doch irgendwie mit dem Hirn und sich alleine.

Es hätten andere Themen die Tagesordnung bestimmen sollen. Bildungsungleichheit zum Beispiel und auf einmal waren die Schulen zu. Systemrelevanz oder betriebsnotwendig – sind Bildungswissenschaftler systemrelevant oder betriebsnotwendig? Hat das eigentlich irgend einen Sinn, was man tut? Die Frage tut sich auf angesichts derer, die im Gesundheitswesen gegen Mangel und um die Gesundheit von Patienten kämpfen, diejenigen, die sich von unausgelasteten Riesenhamstern im Wettlauf um die letzte Palette Nudeln und Klopapier oder die größte Kettensäge umrennen lassen müssen. Und und und. Systemrelevant. Berechtigt zur Notbetreuung der Kinder. Aber nur, wenn beide Elternteile systemrelevante Berufe haben. So schrieb es zumindest die Allgemeinverfügung im Freistaate Sachsen vor. Völlig unvorhersehbar musste man aber feststellen – systemrelevant für die Gesellschaft ist nicht unbedingt betriebsnotwendig für die Familie. Familien entschieden sich, der Hauptverdiener geht arbeiten. Welch Überraschung. Da hatte man wohl einige Faktoren nicht mit bedacht. Nicht mitbedacht wird wohl auch, ist zumindest zu befürchten beim Homeschoolinghype, dass da nicht nur Linus, Laura und Malte mit den Eltern gemeinsam am Rechner auf der Dachterrasse fröhlich lernend beieinander sitzen, sondern dass es auch Familien gibt, Kinder gibt, deren Umfeld so gar nicht in das Idealbild unserer schönen neuen digitalen Welt passen. Und vermutlich werden, wenn irgendwann einmal wieder sowas wie Normalität eingekehrt sein wird, die Bildungsungleichheiten noch ein bisschen größer sein und wahrscheinlich nicht mehr so ganz viel Aufmerksamkeit bekommen, weil vielleicht andere Probleme größer sind. Vielleicht müssen sich dann auch die Unternehmen nicht mehr kritisch fragen lassen, warum sie Hauptschüler trotz fehlenden Nachwuchses nicht so gern einstellen, vielleicht spielt der Anteil der Schüler*innen ohne Abschluss dann nicht mehr so eine große Rolle weil wieder mehr humane Ressourcen freigesetzt wurden. Vielleicht gibt es dann auch wieder genug Sozialpädagogen auf dem Arbeitsmarkt. weil die öffentlichen Haushalte in Schieflage geraten sind. Früher mal vor langer Zeit hatte ich mal was mit kommunalen Finanzen zu tun, dank Fernstudium gerade wieder und meine Skepsis ob der vielen Versprechen, wer alles mit viel Geld gerettet werden soll, wächst zusehends. Meine Filterblase ist zuweilen verstörend weit weg von den Welten, in denen Menschen Angst vor Kurzarbeit haben, die Existenzängste haben, die von heute auf morgen nicht mehr wissen wo das Einkommen herkommen soll. Es gibt gute Argumente für alle diese Maßnahmen, aber für die Tatsache, dass es ein Szenario, wie wir es heute erleben, seit sieben Jahren gibt, wirken sie seltsam unvorbereitet und unabgestimmt. Und dank zweier Expertinnen in Sachen Statistik sensibilisiert, ärgere ich mich über die Art, wie wir momentan mit Zahlen umgehen. Eine statistische Zahl ohne eine Bezugsgrößen sagt im Grunde nichts weiter aus, als dass es sie gibt. Und das ist nun wiederum fatal.

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