Noch nie wurde so viel über Bildungsgerechtigkeit gesprochen, noch nie so oft die Tatsache thematisiert und problematisiert, dass Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abhängt und dass es durchaus eine Anzahl Schüler*innen gibt, die aufgrund ihrer prekären Aufwachsensbedingungen in ihren Chancen auf Bildung (gemeint sind wohl verwertbare Bildungszertifikate, also ein auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verwertbarer Schulabschluss) eingeschränkt werden. Allein, es blieb bei der Problematisierung und als einzig hilfreiche Maßnahme sei die Öffnung der Schulen und die Rückkehr zum Präsenzunterricht.
Natürlich – die für deutsche Verhältnisse recht plötzliche Einführung bislang nahezu ausgeschlossener Unterrichtsformen auf Distanz, das Angewiesensein auf digitale Medien als Ersatz für Klassenzimmer, Polylux, Tafel und Kreide, führt zu einer Verschärfung der Ungleichheiten im Bildungssystem, führt dazu, dass soziale Ungleichheiten im Bildungssystem verstärkt werden. Familiär, aber auch einrichtungsbezogen. Es gibt nämlich nicht nur Bildungserfolgsbarrieren für die konkreten Lernenden, es gibt sie auch für Schulen. Der entscheidende Wettbewerbsfaktor ist die Kombination von Ausstattung und den Kompetenzen zum Einsatz. Das trifft für Familien ebenso zu wie für eine Schule. Ich bin nicht sicher ob es Erhebungen zum Einsatz digitaler Lehr/Lernmittel, der Ausstattung von Schulen und der Kompetenzen im Kollegium gibt, die Schulart, die soziale Lage und Sozialstruktur der Schüler*innenschaft der Schulen mit in Betracht ziehen. Die These: Die Schulen, die den höchsten Bildungsabschluss ermöglichen und die die potenteste Elternschaft (soziale Lage, Einkommen, Bildungshintergrund, Bildungsaspirationen) haben, stehen (im Regelfall) an der Spitze. Weil natürlich auch die Bildungsentscheidungen von Eltern wiederum etwas mit deren Bildungshintergrund, sozialer Herkunft und sozialem Status zu tun haben.
Die Situation belastet zunächst alle. Ob Schüler*innen tatsächlich solche horrenden Bildungsverluste erleiden, daran mögen Zweifel berechtigt sein, entscheidend ist wohl die Frage, wie viel potentiell prüfungsrelevantes Wissen wird nicht erworben. Denn Bildung findet immer statt. Nur eben nicht institutionalisiert. Der eigentliche Stress, so die nächste These, entsteht hauptsächlich dadurch, dass mit meist unzureichenden Mitteln Präsenzunterricht ersetzt werden soll.
Bemerkenswert ist nach all dem Drama um den heiligen Gral des Präsenzunterrichts: die mit Krokodilstränen beweinten benachteiligten Schüler*innen spielen in keinem der Öffnungskonzepte der Bundesländer eine Rolle. Es geht meist nur um die Frage, wer darf eher – die „beginners“ oder die „seniors“, die Lernanfänger*innen in Grundschulen oder die Abschlussklassen. Nichts ist zu lesen über Angebote für Schüler*innen, die zu Hause keine Unterstützung, keinen Schreibtisch haben und denen vielleicht irgend ein gleichzeitig strukturgebendes individuelles Angebot hülfe, zu denen die Lehrenden vielleicht auch zeitweise gar keinen Kontakt aufnehmen konnten. So ein Angebot wäre auch eine lohnenswerte Aufgabe für Lehramtsstudierende, und so etwas ginge durchaus auch digital.
Keine Rolle spielen ebenso die Schüler*innen, deren Herkunftssprache nicht deutsch ist und diese Sprache in den Familien auch nicht gesprochen wird. Diese Schüler*innen werden in ihrem Spracherwerb vermutlich so sehr zurückgeworfen, dass das Aufholen eine größere Aufgabe darstellen wird.
Man darf gespannt sein, was von der Aufmerksamkeit für das Thema Bildungsgerechtigkeit bleibt.