Erzählungen

Monat: April 2019

Der Störenfried

Denn Bourdieus Analysen stellen eine doppelte Provokation dar, die häufig von Pädagogen als doppelte Beleidigung wahrgenommen wird. Es ist einerseits die Provokation durch Aufklärung und Objektivierung, die mit den schmerzlichen Desillusionierungen verbunden sein kann. Und es ist andererseits die fundamentale Provokation durch die Wahrnehmung der Kontingenz selbst, der Zufälligkeit, Situativität, Unberechenbarkeit und Unsteuerbarkeit der gesellschaftlichen Praxis und auch der pädagogischen Praxis in ihr, die die Aussicht auf eine aktive, zielgerichtete und erfolgreiche pädagogische Einflussnahme vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Kämpfe als sehr unwahrscheinlich und den Pädagogen selbst als interessierten Akteur in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erscheinen lässt. Für pädagogische Größenphantasien bleibt da wenig Raum. Als Pädagoge kann man da nur bescheiden(er) werden.
[…]
Aussichtsreicher scheint mir ein anderer Weg: Man muss – empirisch realistisch und mit der gebotenen Skepsis – wahrzunehmen versuchen, was ist und was sich entwickelt (da sind Bourdieusche Ansätze sehr hilfreich), man muss pragmatisch alle Ressourcen suchen und mobilisieren, die erreichbar sind (mit Bourdieu kann man ganz gut darauf kommen, um welche es sich da handeln könnte), und man muss, in fröhlichem Vertrauen auf die trotz allem gegebene substantielle Kraft der Kultur, versuchen, den pädagogischen Alltag und die pädagogische Gegenwart zu kultivieren, in der Makro-, in der Meso- und in der Mikropolitik: da, wo man halt wirken kann. Nur wenn man sich auf die Vermitteltheit einlässt und sich ihr bewusst aussetzt, und nur wenn man um die Grenzen weiß, wird man auch erfolgreich vermitteln und sogar eigenständig Kultur entwickeln können – dann aber schon. Dass das einen großen Plan ergibt und dass dabei genau das herauskommt, was man gewollt hat, sollte man freilich nicht ohne weiteres erwarten. (Liebau, 2009, p. 56)

References
Liebau, E. (2009). Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen. In B. Friebertshäuser, M. Rieger-Ladich, & L. Wigger (Eds.), Reflexive Erziehungswissenschaft (pp. 41–58). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91645-3_3

Bildungschancen

„Wir decken gemeinsam mit Kindern den Tisch, wir machen einen gemeinsamen Tischspruch und wir bleiben, wir versuchen mal zehn Minuten am Tisch zusammen zu sitzen und genießen mal das Essen was wir schmecken, und da geht es gar nicht darum, was basteln wir morgen, sondern wir haben gemeinsam gegessen, jeder hatte was zu essen, was Warmes zu essen, wir haben gemeinsam gedeckt und haben gemeinsam abgeräumt, legen uns gemeinsam zum Schlafen hin, wir haben so Rituale, feste Rituale, wir werden beim Einschlafen kurz gestreichelt. Ich denke das ist irgendwie so wichtig, dass man den Kindern vermittelt, dass es das gibt, […] dass sie sich das mitnehmen und vielleicht auch in ihrem späteren Leben doch mal noch andere Sachen wichtig finden.“

Ein zwingendes Argument

„Wir bezeichnen daher mit dem Begriff der objektiven Realität etwas, was wir für universal gültig und für unabhängig von dem halten, was wir tun. Und wir benutzen ihn als ein Argument, um Menschen zu etwas zu zwingen…“ (Maturana, 2000, p. 226)

Maturana, H. R. (2000). Biologie der Realität (1. Aufl). Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft: Vol. 1502. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Verwaltung

Verwaltungen sind ganz allgemein gesagt formale Organisationen, die nach Regeln arbeiten und mit eigens geschultem Personal öffentliche Aufgaben oder Assistenzfunktionen erfüllen. Das Eigentümliche der Verwaltung ist, dass sie ebenso allgegenwärtig wie unentbehrlich und doch, was ihre eigentliche Natur betrifft, weitgehend unbekannt und nicht einmal besonders hoch angesehen ist. Verwaltung gilt bestenfalls als uninteressant, jedenfalls als Expertenangelegenheit. Das ist paradox, schon deshalb, weil die öffentliche Verwaltung im demokratischen Staat Angelegenheit der Bürger sein sollte, und das kann sie nur sein, wenn diese die Möglichkeit haben, sich über ihre Eigenheiten zu unterrichten und sie wenigstens ihren Grundzügen nach zu verstehen. Verwaltung verstehen bedeutet nicht nur zu wissen, wie sie funktioniert, sondern auch beurteilen zu können, ob sie gut und angemessen funktioniert.


Seibel, W. (2016). Verwaltung verstehen: Eine theoriegeschichtliche Einführung (Erste Auflage, Originalausgabe). Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft: Vol. 2200. Berlin: Suhrkamp.

#Mastersplitter

Ressource Mensch

Der Freistaat startet eine Werbekampagne. In der Stadt thematisiert es der Rechnungsprüfer. Die Wirtschaft tut es schon länger, der Bereich Soziales und Bildung sowieso, heute tun es die freien Träger. Fachkräftemangel. Welch Euphemismus. Nennen wir das Kind doch beim Namen, die Ressource Mensch in der gewünschten Qualität steht nicht allerorten in so ausreichendem Maße zur Verfügung, wie es sich der Ressourcenbedürftige vorstellt. Die Marktverhältnisse haben sich – und da helfen Forderungen, dass „man“ hier etwas „tun müsse“ oder; noch besser; „etwas getan werden müsse“ genausowenig wie die Versprechen, mehr Stellen zu schaffen – umgedreht. Zugunsten der Ressource Mensch. Das war lange Zeit anders, so lange Zeit, dass sich die gesamte Gesellschaft daran gewöhnt hat. Ergo ist das alles hausgemachtes Elend. Geburtenzahlen, die Tatsache, dass Mensch älter, anfälliger und insgesamt hilfs- und dienstleistungsbedürftiger wird und lernfähig ist. Lernfähig insoweit, dass er natürlich das Prinzip des Marktes auch für sich verinnerlicht hat. Berufswahl ist ein Bestandteil der Suche nach dem guten Leben – was auch immer der Einzelne darunter versteht. Planwirtschaft in der Berufsorientierung und Berufsausbildung gab es, hat sich ja nicht bewährt. Ein Dilemma. Hinzu kommt, eine Entwicklung hin zum Dienstleisten lassen, die Ansprüche in der Berufswelt haben sich verändert. Es werden eben nicht weniger Arbeitskräfte benötigt. Auch wenn viele immer noch daran glauben, durch Digitalisierung spare man Personal. Das ist dummerweise zu kurz gedacht und ziemlich riskant.

Spannend nun, wenn in Zeiten zunehmenden Wahlkampfes in dafür prädestinierten Bereichen „Verdopplung des Personalschlüssels“ gefordert wird. Von einem imaginären Dritten. Dieser imaginäre Dritte soll es gleich mitbacken, dieses Mehr an Personal. Der Umkehrschluss, mittlerweile nicht mehr ganz so opportun, zu sparen (wahlweise Unterrichtsstunden oder Betreuungszeiten oder Personalschlüssel oder anderweitige Zugangskritieren) kam eben blöd an in der Öffentlichkeit. Ist auch in der Sache falsch.

Nun gibt es Werbekampagnen. Wenn nicht, werden sie gefordert. Die Jugend wird’s freuen, ihr Marktwert steigt, vorausgesetzt, sie hat Abi. (Da sind wir wieder beim Thema Bildung.) Die Jugend ist aber nicht blöd. Sie weiß sehr genau, in welchen Branchen welche Bedingungen herrschen, von welchen Berufen man halbwegs leben kann, von welchen nicht und – Achtung – welche Berufe soziale Anerkennung genießen. Das sind nicht die Altenpfleger. Das sind nicht die Erzieher. Oder gar das Unwort Verwaltungsmitarbeiter (auch wenn der öffentliche Dienst wiederum attraktiv ist wegen der gefühlten Sicherheiten).

Zum Glück und endlich – muss man sagen, gibt es die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für Studien, die sich beispielsweise der Berufsorientierung widmen, Vorher hat es niemanden interessiert, solange genug Material auf dem Markt verfügbar war. Auch davon wird niemand gebacken und auch davon wird noch kein Problem gelöst. Aber möglicherweise beginnt das Nachdenken darüber, genauso intensiv wie bei Umweltthemen, wie nachhaltig und sorgsam gehen wir mit dem eben nicht so einfach in der gewünschten Menge nachwachsenden Rohstoff Mensch um, wie sehr leben wir da auf Verschleiß und verschleudern – uns. Dazu gehört auch, bei allen Werbekampagnen diejenigen nicht zu vergessen, die die Läden am Laufen halten, wenn viele den Laden aus Alternsgründen verlassen und die Jugend eben noch niht ausreichend da ist. Gesundheit und Motivation sind keine Selbstverständlichkeiten. Nachhaltig wirtschaften eben.

#Mastersplitter

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