An dieses Potential des soziologischen Blicks erinnert werde ich so gut wie jeden Tag. Wann immer ich das Büro der eigenen Einrichtung betrete, schaut es mich an. Ein Foto Bourdieus mitsamt dem Nekrolog, der kurz nach seinem Tod 2002 in der taz erschienen ist, hängt hier seit Jahren an der Pinwand hinter meinem Schreibtisch. Bourdieu blickt mir von dort aus sozusagen über die Schulter. Kaum jemand, der das Büro betritt, nimmt Notiz davon. Seine Gesichtszüge sind den hier verkehrenden Familien in aller Regel nicht vertraut, und es gibt keinen Grund, den eigenen Bezug zu ihm und seinem Werk irgendjemandem aufzudrängen, auch wenn es mir immer gute Dienste geleistet hat und leistet. Manchmal, wenn es um die (kollektive) Reflexion der eigenen Arbeit, um pädagogische Fragen, solche der Teamentwicklung oder auch zu treffende Entscheidungen geht, befrage ich das Werk Bourdieus in Form eines inneren Dialogs, so wie wenn man am Grab der eigenen Eltern oder eines geliebten Menschen diese darauf hin befragt, welcher nächste Schritt unter gegebenen Bedingungen als bestmöglicher zu vollziehen sei. Nicht zuletzt hilft mir die Sozioanalyse auch dabei, der Subtilität des „Marktgeschehens“ gewahr zu sein und zu bleiben, handle es sich um Anfragen, Kontaktaufnahmen, Besichtigungen, den Abschluss von Verträgen, mithin auch im täglichen Umgang mit Kindern, Eltern und Personal. Dabei stimmt sie in hohem Maße versöhnlich, erlaubt sie es doch, eigene Spielräume und auch solche gesamtgesellschaftlicher Art zu erkennen, zu identifizieren und zu nutzen. Sie ermöglicht es, die Aufnahmepolitik des Trägers und der Einrichtung, für die ich tätig bin, und nicht zuletzt mich selbst unter allen angeführten Gesichtspunkten auf den Prüfstand und in Frage zu stellen. Als eine dem professionellen Habitus inkorporierte Metaperspektive trägt der soziologische Blick dazu bei, das eingangs thematisierte Paradoxon, wonach eigenen professionellen Praktiken ein objektiver Sinn innewohnt, der subjektive Absichten übersteigt, im Blick zu behalten; dies deshalb, weil er diese Praktiken in ihrer Einbettung in die dem Markt der frühkindlichen Bildung eingeschriebenen Gesetzmäßigkeiten erfasst. Auf diese Weise ermöglicht er es, diese eher untergründig wirksame Seite sozialen Sinns, anstatt sich ihr zu unterwerfen, einem Mindestmaß an kontrollierter Beherrschung zuzuführen. (Bröskamp 2017, S. 32)
Bröskamp, Bernd (2017): Der Markt der frühkindlichen Bildung. In: Markus Rieger-Ladich und Christian Grabau (Hg.): Pierre Bourdieu: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 15–33.