In Wahlkämpfen ganz besonders hat die bürgerliche Mitte Konjunktur. Klingt gut. Bürgerlich. Mitte. Wohlfühlen. Bodenständig. Nun also: Was oder wer ist diese mystische bürgerliche Mitte, immer dann benannt, wenn gefühlt eine Quasimehrheit als Referenzrahmen für Machtansprüche angerufen werden soll. Der Mensch tendiert irgendwie zur Mitte. Mitte klingt so ausgewogen und gemütlich und kuschelig. Am Rande der Gesellschaft ist es ungemütlich, da droht Exklusion (oder Exklusivität), politisch müsste man sich irgendwie positionieren. Wo also ist die bürgerliche Mitte und wo sind die nichtbürgerlichen oder unter-, ober-, links- oder rechtsbürgerlichen Nichtmitten?

Es geht um Menschen. Und es scheint um Menschen mit gewissen Ähnlichkeiten zu geben, Ähnlichkeiten in politischen Einstellungen und in ihrer Lebenswelt. Wir reden von Schichten, Klassen, Milieus oder – ganz im Duktus der bürgerlichen Mitte: „Lebenswelten“. Es gibt eine ganze Reihe theoretischer Ansätze, die sich mit der Frage ähnlicher Lebenswelten befassen. Bekannte Namen dürften Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Stefan Hradil, Helmut Bremer, Emile Durkheim, oder Gerhard Schulze sein. Es heißt zwar immer, mit Soziologie kann man bestenfalls in einer Bar oder als Taxisfahrer arbeiten, man kann aber mit Soziologie auch richtig Geld verdienen, in dem man ein Modell wirtschaftlich nutzbar macht. Stichwort Zielgruppenforschung. Die Sinus-Milieus sind der nach eigener Aussage der „Goldstandard der Zielgruppensegmentation“ und fassen „Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu Gruppen Gleichgesinnter zusammen„. (An der Stelle sei erwähnt: als Sozialwissenschaftlerin hege ich eine gewisse Skepsis gegenüber diesem Geschäftsmodell, aber das tut an dieser Stelle nichts zur Sache.) Und siehe da, es GAB ein Milieu mit dem Namen „bürgerliche Mitte“. 2019 wurde die bürgerliche Mitte noch so beschrieben:

Leitmotiv des Milieus ist „das Erreichte sichern“ – was allerdings schwer fällt in Zeiten, in denen die Zukunft immer weniger planbar scheint. Tatsächlich breitet sich in der Bürgerlichen Mitte zunehmend Verunsicherung und Furcht vor sozialem Abstieg aus: Angst, nicht mehr mitzukommen (technologisch, finanziell), den Anforderungen steigender Komplexität (Digitalisierung) und Diversität (Zuwanderung) nicht mehr gerecht werden zu können – mit der Folge wachsender Unzufriedenheit und Erschöpfung sowie verstärkter Cocooning- und Abschottungstendenzen.

Hempelmann, H., Flaig, B.B. (2019). Die Bürgerliche Mitte. In: Aufbruch in die Lebenswelten. Springer VS, Wiesbaden. S. 117

Die Abschottungstendenzen merken wir uns. Weiter heißt es:

Diese Befindlichkeit ist in der Kommunikation mit der Bürgerlichen Mitte mit zu berücksichtigen. Die Kommunikation sollte keine Störimpulse setzen und
nicht allzu elaboriert und herausfordernd sein. […]. Leitmotive der Ansprache könnten sein: gesicherte Verhältnisse herstellen; das gute Mittelmaß finden; integriert sein und mitreden können; bodenständig, gesellig und lebensfroh bleiben.

HEMPELMANN, H., FLAIG, B.B. (2019). DIE BÜRGERLICHE MITTE. IN: AUFBRUCH IN DIE LEBENSWELTEN. SPRINGER VS, WIESBADEN. S. 117

Handelt es sich nun um eine Mehrheit? Dieses bürgerliche Mittenmilieu umfasste etwa 13% der Bevölkerung. (Quelle: Hempelmann, H., Flaig, B.B. (2019). Die Bürgerliche Mitte. In: Aufbruch in die Lebenswelten. Springer VS, Wiesbaden, S. 177ff.). Dreizehn Prozent. Und das Wahlverhalten?

2017 wurde von der Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit dem SINUS-Institut und YouGov das Wahlverhalten der sozialen Milieus bei einer Bundestagswahl analysiert. Ein Bild ist interessant:

Quelle: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/bundestagswahl-2017-wahlergebnis-zeigt-neue-konfliktlinie-der-demokratie

In dieser Studie wurde auch eine „neue Konfliktlinie der Demokratie“ identifiziert. Nämlich die zwischen Modernisierungsskeptikern versus Modernisierungsbefürwortern. (Wir erinnern uns an die Abschottungstendenzen).

„Die Ergebnisse dieser Studie weisen als Signatur der Bundestagswahl 2017 auf eine neue Konfliktlinie der Demokratie hin, die als diagonaler Riss durch die Mitte
der Gesellschaft verläuft. Als Diagonale trennt sie die Gesellschaft entlang der zwei definierenden Dimensionen der sozialen Milieus: Zum einen entlang der sozio-ökonomischen Dimension in eine Ober-, Mittel- und Unterschicht. Zum anderen in der Wertedimension entlang der Grundorientierungen der Tradition,
Modernisierung/Individualisierung und Neuorientierung. Auf der linken Seite der Diagonale befinden sich die Milieus der Modernisierungsskeptiker, auf der rechten Seite die Milieus der Modernisierungsbefürworter. Auf beiden Seiten der Diagonale befindet sich etwa die Hälfte aller Wahlberechtigten in Deutschland.
Auf der einen Seite der Konfliktlinie sind diejenigen Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen den ökonomischen, sozialen, technischen und kulturellen
Modernisierungstendenzen eher skeptisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Sie empfinden sich zumindest subjektiv als soziale, ökonomische und/oder
kulturelle Verlierer der Modernisierung. Das prägt auch ihr Wahlverhalten.
[…]
Auf der anderen Seite der Konfliktlinie befinden sich vor allem Menschen, die von den ökonomischen, sozialen, technischen und kulturellen Modernisierungstendenzen profitieren oder sich zumindest davon angezogen fühlen und damit überwiegend Chancen verbinden. Auch das prägt ihr Wahlverhalten. „

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Populaere_Wahlen_Bundestagswahl_2017_01.pdf

Eine Entwicklung, die tiefgreifend ist, denn in der Veröffentlichung der Sinus Milieus 2021 schreibt das Institut schließlich vom

Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten„. Weiter heißt es: „Das Adaptiv-Pragmatische Milieu rückt an die Stelle der abstiegsbesorgten Bürgerlichen Mitte ins Zentrum des gesellschaftlichen Mainstreams. Die Nostalgisch-Bürgerlichen ziehen sich in ihre Nische zurück und werden zunehmend systemkritisch.

Die neuen Sinus-Milieus® 2021 | SINUS-Institut

Auf Abschottung folgt also Systemkritik. Und wie beschreibt Sinus nun die neuen Milieus? Die ehemals bürgerliche Mitte rückt in die Ecke der Nostalgiker.

Nun spielt bei einer Wahlbeteiligung von um die 50% schon die Mobilisierung von Wählenden eine Rolle. Lässt sich da vielleicht was mit der bürgerlichen Mitte anfangen? Auch da gibts was von Sinus, nämlich eine Studie zur Wahlbeteiligung der verschiedenen Milieus zur Bundestagswahl 2017: Wahlbeteiligung sozialer Milieus bei Bundestagswahl | Statista. Spoiler: Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich deutlich und die damals noch jüngere bürgerliche Mitte war nicht der Spitzenreiter.

Und noch ein Zitat vom April 2021 in Bezug auf die Bundestagswahl, welches sich im Nachgang als nicht ganz so falsch erwiesen hat: „Wahlen werden nicht mehr in der Mitte gewonnen, sondern im Dreieck der Sinus-Milieus der Performer, Liberal-Intellektuellen und der beiden jungen Zukunftsmilieus der Expeditiven und Adaptiv-Pragmatischen. Entscheidend ist die Mobilisierung und die sowohl rationale als auch emotionale Anziehungskraft in diesen politisch interessierten und mental offenen Sinus-Milieus. Wahlentscheidend könnte sein, wer die Wanderungsströme dieser Milieus zwischen Grünen, CDU, FDP und SPD am besten für sich gewinnen kann„.

Sonntagsfrage: Grüne und Union sind größte Konkurrenten (sinus-institut.de)