können manchmal ziemlicher Blödsinn sein, da werden Wahlbeteiligung und Stimmanteile bei der Bundestagswahl mit denen bei einer Oberbürgermeisterwahl zusammengebracht und aus den Unterschieden irgendwelche Tendenzen herausgelesen.
Das Statistische Landesamt Baden-Württemberg spricht im Monatsblatt 3/2019 von einer Wahlbeteiligungshierarchie. Das heißt: Die Beteiligung an Wahlen in Deutschland unterscheidet sich zwischen den verschiedenen Wahlarten deutlich, am höchsten rangiert die Bundestagswahl, am Ende der Wahlbeteiligungskette kommen Europawahl, dann die Kommunalwahl und ganz zum Schluss die Bürgermeisterwahl. Der langhöchsten rangiert die fristige Trend verweist auf einen Rückgang insgesamt und (!) je kleiner die Gemeinde, desto höher die Wahlbeteiligung und umgekehrt. „Die niedrigsten Beteiligungsquoten werden in Städten mit 50 000 bis unter 100 000 Einwohnern (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 36,7 %) und in Großstädten von 100 000 bis unter 500 000 Einwohnern (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 36,1 %) gemessen.“ Ausnahme: Stuttgart.
Für Sachsen habe ich solche Erhebungen nicht gefunden, aber es ist eine Recherche wert.
Wie erklärt sich das? Grundsätzlich scheint es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Kandidierenden und der Wahlbeteiligung zu wählen. Kurz gefasst: weniger Auswahl – weniger Wählende. Eine Studie zu den Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg zeigte, einen Zusammenhang zwischen der Knappheit des Ergebnisses und der Wahlbeteiligung. Übersetzt: Spannung erhöht die Beteiligung. Erscheint den potentiellen Wählenden die Wahl schon entschieden, dann gehen sie nicht zur Urne. Man könnte hier weiter interpretieren: sind Wählende nicht überzeugt von den Chancen derjenigen Person, die sie aufgrund ihrer Einstellungen und Haltungen am ehesten ihre Stimme geben würden, so lassen sie es unter Umständen sein. Wahlkopplung hilft, es gibt also auch bei Wahlen Mitnahmeeffekte. Würden also Bürgermeisterwahlen (am wenigsten interessant) zeitgleich mit der Bundestagwahl (hochinteressant) stattfinden, entspräche die Wahlbeteiligung bei der Bürgermeisterwahl der Beteiligung bei der Bundestagswahl.
Auf der Individualebene zeigt sich: arme Menschen gehen seltener zur Wahl. Ein (gefühlt) gutes Einkommen geht einher mit der Zufriedenheit mit der Demokratie und wirkt sich positiv auf die Motivation aus, wählen zu gehen. Das aber hat eine gewisse Tragik.
Etwas zum Nachlesen: Walther, J. (2017). Faktoren zur Erklärung von Wahlbeteiligung und Kandidatenzahl. In: Mehrheitswahlsysteme . Springer VS, Wiesbaden.
So ganz bestätigen sich die Baden-Württemberger Erkenntnisse nicht. Europa scheint für die Dresdner Wählenden doch weit weg, dennoch lässt sich eine Wahlarthierarchie auch hier feststellen. 2024 wird sich zeigen, ob die Wahlbeteiligung auf dem Niveau von 2019 verbleibt.
In Wahlkämpfen ganz besonders hat die bürgerliche Mitte Konjunktur. Klingt gut. Bürgerlich. Mitte. Wohlfühlen. Bodenständig. Nun also: Was oder wer ist diese mystische bürgerliche Mitte, immer dann benannt, wenn gefühlt eine Quasimehrheit als Referenzrahmen für Machtansprüche angerufen werden soll. Der Mensch tendiert irgendwie zur Mitte. Mitte klingt so ausgewogen und gemütlich und kuschelig. Am Rande der Gesellschaft ist es ungemütlich, da droht Exklusion (oder Exklusivität), politisch müsste man sich irgendwie positionieren. Wo also ist die bürgerliche Mitte und wo sind die nichtbürgerlichen oder unter-, ober-, links- oder rechtsbürgerlichen Nichtmitten?
Es geht um Menschen. Und es scheint um Menschen mit gewissen Ähnlichkeiten zu geben, Ähnlichkeiten in politischen Einstellungen und in ihrer Lebenswelt. Wir reden von Schichten, Klassen, Milieus oder – ganz im Duktus der bürgerlichen Mitte: „Lebenswelten“. Es gibt eine ganze Reihe theoretischer Ansätze, die sich mit der Frage ähnlicher Lebenswelten befassen. Bekannte Namen dürften Norbert Elias, Pierre Bourdieu, Stefan Hradil, Helmut Bremer, Emile Durkheim, oder Gerhard Schulze sein. Es heißt zwar immer, mit Soziologie kann man bestenfalls in einer Bar oder als Taxisfahrer arbeiten, man kann aber mit Soziologie auch richtig Geld verdienen, in dem man ein Modell wirtschaftlich nutzbar macht. Stichwort Zielgruppenforschung. Die Sinus-Milieus sind der nach eigener Aussage der „Goldstandard der Zielgruppensegmentation“ und fassen „Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu Gruppen Gleichgesinnter zusammen„. (An der Stelle sei erwähnt: als Sozialwissenschaftlerin hege ich eine gewisse Skepsis gegenüber diesem Geschäftsmodell, aber das tut an dieser Stelle nichts zur Sache.) Und siehe da, es GAB ein Milieu mit dem Namen „bürgerliche Mitte“. 2019 wurde die bürgerliche Mitte noch so beschrieben:
Leitmotiv des Milieus ist „das Erreichte sichern“ – was allerdings schwer fällt in Zeiten, in denen die Zukunft immer weniger planbar scheint. Tatsächlich breitet sich in der Bürgerlichen Mitte zunehmend Verunsicherung und Furcht vor sozialem Abstieg aus: Angst, nicht mehr mitzukommen (technologisch, finanziell), den Anforderungen steigender Komplexität (Digitalisierung) und Diversität (Zuwanderung) nicht mehr gerecht werden zu können – mit der Folge wachsender Unzufriedenheit und Erschöpfung sowie verstärkter Cocooning- und Abschottungstendenzen.
Hempelmann, H., Flaig, B.B. (2019). Die Bürgerliche Mitte. In: Aufbruch in die Lebenswelten. Springer VS, Wiesbaden. S. 117
Die Abschottungstendenzen merken wir uns. Weiter heißt es:
Diese Befindlichkeit ist in der Kommunikation mit der Bürgerlichen Mitte mit zu berücksichtigen. Die Kommunikation sollte keine Störimpulse setzen und nicht allzu elaboriert und herausfordernd sein. […]. Leitmotive der Ansprache könnten sein: gesicherte Verhältnisse herstellen; das gute Mittelmaß finden; integriert sein und mitreden können; bodenständig, gesellig und lebensfroh bleiben.
HEMPELMANN, H., FLAIG, B.B. (2019). DIE BÜRGERLICHE MITTE. IN: AUFBRUCH IN DIE LEBENSWELTEN. SPRINGER VS, WIESBADEN. S. 117
Handelt es sich nun um eine Mehrheit? Dieses bürgerliche Mittenmilieu umfasste etwa 13% der Bevölkerung. (Quelle: Hempelmann, H., Flaig, B.B. (2019). Die Bürgerliche Mitte. In: Aufbruch in die Lebenswelten. Springer VS, Wiesbaden, S. 177ff.). Dreizehn Prozent. Und das Wahlverhalten?
2017 wurde von der Bertelsmann Stiftung in Kooperation mit dem SINUS-Institut und YouGov das Wahlverhalten der sozialen Milieus bei einer Bundestagswahl analysiert. Ein Bild ist interessant:
In dieser Studie wurde auch eine „neue Konfliktlinie der Demokratie“ identifiziert. Nämlich die zwischen Modernisierungsskeptikern versus Modernisierungsbefürwortern. (Wir erinnern uns an die Abschottungstendenzen).
„Die Ergebnisse dieser Studie weisen als Signatur der Bundestagswahl 2017 auf eine neue Konfliktlinie der Demokratie hin, die als diagonaler Riss durch die Mitte der Gesellschaft verläuft. Als Diagonale trennt sie die Gesellschaft entlang der zwei definierenden Dimensionen der sozialen Milieus: Zum einen entlang der sozio-ökonomischen Dimension in eine Ober-, Mittel- und Unterschicht. Zum anderen in der Wertedimension entlang der Grundorientierungen der Tradition, Modernisierung/Individualisierung und Neuorientierung. Auf der linken Seite der Diagonale befinden sich die Milieus der Modernisierungsskeptiker, auf der rechten Seite die Milieus der Modernisierungsbefürworter. Auf beiden Seiten der Diagonale befindet sich etwa die Hälfte aller Wahlberechtigten in Deutschland. Auf der einen Seite der Konfliktlinie sind diejenigen Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen den ökonomischen, sozialen, technischen und kulturellen Modernisierungstendenzen eher skeptisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen. Sie empfinden sich zumindest subjektiv als soziale, ökonomische und/oder kulturelle Verlierer der Modernisierung. Das prägt auch ihr Wahlverhalten. […] Auf der anderen Seite der Konfliktlinie befinden sich vor allem Menschen, die von den ökonomischen, sozialen, technischen und kulturellen Modernisierungstendenzen profitieren oder sich zumindest davon angezogen fühlen und damit überwiegend Chancen verbinden. Auch das prägt ihr Wahlverhalten. „
Eine Entwicklung, die tiefgreifend ist, denn in der Veröffentlichung der Sinus Milieus 2021 schreibt das Institut schließlich vom
„Ende der Bürgerlichen Mitte wie wir sie kannten„. Weiter heißt es: „Das Adaptiv-Pragmatische Milieu rückt an die Stelle der abstiegsbesorgten Bürgerlichen Mitte ins Zentrum des gesellschaftlichen Mainstreams. Die Nostalgisch-Bürgerlichen ziehen sich in ihre Nische zurück und werden zunehmend systemkritisch.„
Auf Abschottung folgt also Systemkritik. Und wie beschreibt Sinus nun die neuen Milieus? Die ehemals bürgerliche Mitte rückt in die Ecke der Nostalgiker.
Nun spielt bei einer Wahlbeteiligung von um die 50% schon die Mobilisierung von Wählenden eine Rolle. Lässt sich da vielleicht was mit der bürgerlichen Mitte anfangen? Auch da gibts was von Sinus, nämlich eine Studie zur Wahlbeteiligung der verschiedenen Milieus zur Bundestagswahl 2017: Wahlbeteiligung sozialer Milieus bei Bundestagswahl | Statista. Spoiler: Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich deutlich und die damals noch jüngere bürgerliche Mitte war nicht der Spitzenreiter.
Und noch ein Zitat vom April 2021 in Bezug auf die Bundestagswahl, welches sich im Nachgang als nicht ganz so falsch erwiesen hat: „Wahlen werden nicht mehr in der Mitte gewonnen, sondern im Dreieck der Sinus-Milieus der Performer, Liberal-Intellektuellen und der beiden jungen Zukunftsmilieus der Expeditiven und Adaptiv-Pragmatischen. Entscheidend ist die Mobilisierung und die sowohl rationale als auch emotionale Anziehungskraft in diesen politisch interessierten und mental offenen Sinus-Milieus. Wahlentscheidend könnte sein, wer die Wanderungsströme dieser Milieus zwischen Grünen, CDU, FDP und SPD am besten für sich gewinnen kann„.
Dass die politische Kommunikation mit moralischen Inhalten durchsetzt ist, kann man jeden Tage beobachten. Mit deftigen Ausdrücken wird, wenn man der Berichterstattung in Funk und Presse trauen darf, nicht gespart. Und offenbar tragen die Medien, die dies vorzugsweise aufgreifen, das Ihre dazu bei, den Eindruck entstehen zu lassen, dass politische Kultur eine Kultur der wechselseitigen Beleidigungen ist, die so deutlich gewählt sein müssen, dass sie jeder auch ohne besondere Vorbildung versteht. […] Besonders in Wahlkampfzeiten steigert sich dieses merkwürdige Phänomen, Man fühlt sich an einen Vergleich aus der Prinzessin Brambilla von E.T.A. Hoffmann erinnert; an de beiden Löwen, die mit solchem Grimm aufeinander losgehen und in wütendem Kampf einander auffressen, so daß am Ende nichts übrigbleibt als die beiden Schweife. Aber wer hätte Interesse daran, zwischen zwei Schweifen zu wählen? Das kann, wird man sagen, doch wohl nicht ernst gemeint sein. Aber es geschieht vor unseren Augen. Von Ehrlichkeit keine Spur. Es handelt sich, die Grünen vielleicht ausgenommen, nicht um einen Fall von moralischer Naivität, aber auch nicht eigentlich um moralischen Zynismus. Es geht auch nicht um eine »dialektische« Synthese von Naivität und Zynismus; denn bei Dialektik müsste man, Hegels Theorie folgend, Geist als Wirkstoff vermuten und Geist lässt sich in diesem Falle nun beim besten Willen nicht beobachten. Eher tippt man auf eine Art Geschäftigkeit im Ausdrucksmedium eines politischen Moralismus. Offenbar handeln Politiker unter der (berechtigten oder unberechtigten jedenfalls unüberprüfbaren) Zwangsvorstellung, daß die Wähler in der politischen Wahl nach moralischen Kriterien entscheiden. Dies steht in einem offenen Widerspruch zu eine Grundpostulat demokratischer politischer Systeme: daß der Wähler in der Lage sein soll, in der politischen Wahl zwischen den bisher regierenden und den bisher opponierenden Parteien zu entscheiden. Das erfordert dass die Wahl moralisch offengelassen wird, Jede Partei muss, wenn sie sich selbst als demokratisch vorstellen will, die Wählbarkeit anderen Parteien zugestehen. Es käme darauf an, bei moralischer Chancengleichheit das eigene Programm als politisch besser darzustellen oder in der jüngsten Geschichte politische Gründe für die Fortsetzung oder einen Wechsel im Amt ausfindig zu machen. (Luhmann und Horster 2016, S. 170)
Luhmann, Niklas; Horster, Detlef (Hg.) (2016): Die Moral der Gesellschaft. Orig.-Ausg., 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1871).