Dass die politische Kommunikation mit moralischen Inhalten durchsetzt ist, kann man jeden Tage beobachten. Mit deftigen Ausdrücken wird, wenn man der Berichterstattung in Funk und Presse trauen darf, nicht gespart. Und offenbar tragen die Medien, die dies vorzugsweise aufgreifen, das Ihre dazu bei, den Eindruck entstehen zu lassen, dass politische Kultur eine Kultur der wechselseitigen Beleidigungen ist, die so deutlich gewählt sein müssen, dass sie jeder auch ohne besondere Vorbildung versteht. […] Besonders in Wahlkampfzeiten steigert sich dieses merkwürdige Phänomen, Man fühlt sich an einen Vergleich aus der Prinzessin Brambilla von E.T.A. Hoffmann erinnert; an de beiden Löwen, die mit solchem Grimm aufeinander losgehen und in wütendem Kampf einander auffressen, so daß am Ende nichts übrigbleibt als die beiden Schweife. Aber wer hätte Interesse daran, zwischen zwei Schweifen zu wählen? Das kann, wird man sagen, doch wohl nicht ernst gemeint sein. Aber es geschieht vor unseren Augen. Von Ehrlichkeit keine Spur. Es handelt sich, die Grünen vielleicht ausgenommen, nicht um einen Fall von moralischer Naivität, aber auch nicht eigentlich um moralischen Zynismus. Es geht auch nicht um eine »dialektische« Synthese von Naivität und Zynismus; denn bei Dialektik müsste man, Hegels Theorie folgend, Geist als Wirkstoff vermuten und Geist lässt sich in diesem Falle nun beim besten Willen nicht beobachten. Eher tippt man auf eine Art Geschäftigkeit im Ausdrucksmedium eines politischen Moralismus. Offenbar handeln Politiker unter der (berechtigten oder unberechtigten jedenfalls unüberprüfbaren) Zwangsvorstellung, daß die Wähler in der politischen Wahl nach moralischen Kriterien entscheiden. Dies steht in einem offenen Widerspruch zu eine Grundpostulat demokratischer politischer Systeme: daß der Wähler in der Lage sein soll, in der politischen Wahl zwischen den bisher regierenden und den bisher opponierenden Parteien zu entscheiden. Das erfordert dass die Wahl moralisch offengelassen wird, Jede Partei muss, wenn sie sich selbst als demokratisch vorstellen will, die Wählbarkeit anderen Parteien zugestehen. Es käme darauf an, bei moralischer Chancengleichheit das eigene Programm als politisch besser darzustellen oder in der jüngsten Geschichte politische Gründe für die Fortsetzung oder einen Wechsel im Amt ausfindig zu machen. (Luhmann und Horster 2016, S. 170)
Luhmann, Niklas; Horster, Detlef (Hg.) (2016): Die Moral der Gesellschaft. Orig.-Ausg., 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1871).