ÜberLeben

Erzählungen

Bildungsexpansion

Deutschland und die Bildungs(un)gerechtigkeit. Seit Pisa hoch und runter diskutiert, Corona hat der Debatte wieder Konjunktur verschafft. Ein recht aktuelles Beispiel skizziert, warum die Dinge sind wie sie sind und warum Veränderungen so langwierig und schwierig sind.

Was wissen wir über Bildungsungerechtigkeit. (Wärmstens empfohlen sei der „Mythos Bildung“ von Aladin El-Mafaalani, das Buch enthält alles, was man dazu wissen muss, sollte eigentlich für Bildungspolitiker*innen Pflichtlektüre sein.) Wir wissen, dass die soziale Herkunft und Lebenslage die Chancen auf Bildungserfolg und auf Teilhabe, sprich Chancen auf dem Arbeitsmarkt und ein hohes Einkommen, maßgeblich prägt. Statistisch macht man das oft am Bildungsabschluss der Eltern, v.a. der Mutter fest, an der Zahl der Bücher im Haushalt, der Frage ob Leistungen des SGB in Anspruch genommen werden. In unserer Gesellschaft herrscht das Bild vor, jeder Mensch habe, strenge er sich nur genug an, alle Chancen, nach oben zu kommen. Das ist ein sehr praktischer Mythos, lässt er doch die Verantwortung für den Platz, den jemand in einer Gesellschaft einnimmt, beim Individuum und blendet aus, dass es gesellschaftliche, soziale und psychische Mechanismen gibt, die sich nicht so ohne weiteres überwinden lassen. In der Konsequenz ergibt sich das Bild, arme Menschen seien schon so ein bisschen selbst schuld an ihrer Lage, gibt es doch so viele Maßnahmen, mit denen man ihnen helfen will. Und außerdem braucht eine Gesellschaft ja auch Bäcker oder Gebäudereiniger oder Hauswirtschaftlerinnen. Dieser zynisch anmutende Einschub ist ein Argument, was in bildungspolitischen Debatten so selten gar nicht ist und bei genauerer Betrachtung ist es so: unsere Gesellschaft lebt auch von Ungleichheit – und ein Teil davon ganz gut. Man könnte etwas daran ändern. Das hieße dann aber konsequent Umverteilung von Privilegien.

Und hier kommt die Bildungspolitik ins Spiel. Marcel Helbig hat einmal für Berlin die Schulqualität untersucht. Seine Frage war, „bekommen die sozial benachteiligsten Schüler*innen die besten Schulen?“.

„Insgesamt kommen wir zu dem Befund, dass die sozial am stärksten benachteiligten Schulen auch die ungünstigsten Rahmenbedingungen aufweisen. An sozial benachteiligten Schulen ist die Personalabdeckung schlechter, Unterricht muss häufiger vertreten werden oder fällt aus und an ihnen arbeiten mehr Lehrkräfte ohne Lehramtsstudium als an Schulen mit einer besseren sozialen Zusammensetzung. „ (ebd. S. 25/26)

Es gibt wahrscheinlich für nur sehr wenige große Städte Erhebungen oder Gesamtbetrachtungen zur Schulqualität. Was nicht daran liegt, dass es keine Daten gäbe. Eine solche Betrachtung wäre aber unbequem, denn sie zöge auf verschiedenen Ebenen Entscheidungen nach sich. Nämlich zuerst die grundsätzliche, ob tatsächlich diejenigen, die am meisten Unterstützung brauchen, diese auch bekommen sollen. Ich versichere, die Elternvertretungen würden den Politiker*innen deutlich aufs Dach steigen und genauso die Pädagog*innen und ihre Vertretungen den Ministerien oder Landesämtern. Anekdotische Evidenz aus einer „Gerechtigkeitsrunde“: „Jetzt ging es die ganze Zeit um sozial Schwache. Wir müssen aber auch an die anderen denken. Wir wollen für alle Kinder Bildungsgerechtigkeit“. Eine inhaltsschwere Äußerung.

Manchmal gibt es Gelegenheiten, die es auch ohne solchen politischen Sprengstoff erlaubten, bildungsgerechte Entscheidungen zu treffen. Es ist forschungsseitig gut belegt, dass die Bildungsentscheidungen, die Eltern im Laufe der Bildungsbiografie ihrer Kinder treffen, maßgebliche Weichenstellungen sind und sie treffen diese keineswegs inkompetent. Sondern immer adäquat zu ihrer Lebenslage, ihren eigenen Erfahrungen mit dem Bildungssystem, unter der Fragestellung, ob sie ihr Kind auch gut genug unterstützen können, ob das Kind in der jeweiligen Schule und Schulart auch klarkommt und bestehen kann. Und meistens ist es so, dass Eltern aus prekäreren Milieus ihre Kinder eher bremsen, also selbst bei einer Gymnasialempfehlung sagen, Kind, die Mittelschule ist auch ganz gut. (Das wäre auch nicht tragisch wenn nicht, wenn es dann um berufliche Teilhabe und ein gesichertes gutes Einkommen geht, doch wieder der Abschluss zählt. Es wird manchmal vergessen, dass allein der Erhalt des Status heute einen höheren Bildungsabschluss erfordert als ihn die ältere Generation erbringen musste). Es wäre also ein Weg, bei Bildungsentscheidungen anzusetzen und die Entscheidung in der Grundschule besonders den Kindern und Eltern zu ersparen, von denen eine eher zurückhaltende, bremsende Entscheidung zu erwarten ist. Und – und das wiegt noch schwerer – für die der Zeitpunkt der Entscheidung noch viel mehr zu früh ist. Führt dann ein Bundesland eine Schulform ein, die das ermöglicht, was läge näher, zu frage, wo gehen besonders viele dieser Kinder gemeinsam zur Schule, an welchen Schulen könnten wir denn eine Schulartänderung in Betracht ziehen (wohl wissend dass eine Schulartänderung nicht reicht). Dass damit vielleicht auch ein paar Pädagog*innen motiviert werden könnten, an diese Schule zu kommen und eine Lehrtätigkeit dort nicht abzulehnen und Eltern aus bildungsnahen Milieus der Schulart wegen sich für diese Schulen entschieden hätten wären plausibel vermutbare nette Begleiteffekte.

Aber nein. Gemeinschaftsschulen werden eine Universitätsschule und eine Neugründung. Weit weg von segregierten prekären Gebieten. Ein weiterer Beitrag zur Bildungsexpansion. Nicht aber für mehr Gerechtigkeit.

Präsenzbildungsgerechtigkeit

Noch nie wurde so viel über Bildungsgerechtigkeit gesprochen, noch nie so oft die Tatsache thematisiert und problematisiert, dass Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abhängt und dass es durchaus eine Anzahl Schüler*innen gibt, die aufgrund ihrer prekären Aufwachsensbedingungen in ihren Chancen auf Bildung (gemeint sind wohl verwertbare Bildungszertifikate, also ein auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt verwertbarer Schulabschluss) eingeschränkt werden. Allein, es blieb bei der Problematisierung und als einzig hilfreiche Maßnahme sei die Öffnung der Schulen und die Rückkehr zum Präsenzunterricht.

Natürlich – die für deutsche Verhältnisse recht plötzliche Einführung bislang nahezu ausgeschlossener Unterrichtsformen auf Distanz, das Angewiesensein auf digitale Medien als Ersatz für Klassenzimmer, Polylux, Tafel und Kreide, führt zu einer Verschärfung der Ungleichheiten im Bildungssystem, führt dazu, dass soziale Ungleichheiten im Bildungssystem verstärkt werden. Familiär, aber auch einrichtungsbezogen. Es gibt nämlich nicht nur Bildungserfolgsbarrieren für die konkreten Lernenden, es gibt sie auch für Schulen. Der entscheidende Wettbewerbsfaktor ist die Kombination von Ausstattung und den Kompetenzen zum Einsatz. Das trifft für Familien ebenso zu wie für eine Schule. Ich bin nicht sicher ob es Erhebungen zum Einsatz digitaler Lehr/Lernmittel, der Ausstattung von Schulen und der Kompetenzen im Kollegium gibt, die Schulart, die soziale Lage und Sozialstruktur der Schüler*innenschaft der Schulen mit in Betracht ziehen. Die These: Die Schulen, die den höchsten Bildungsabschluss ermöglichen und die die potenteste Elternschaft (soziale Lage, Einkommen, Bildungshintergrund, Bildungsaspirationen) haben, stehen (im Regelfall) an der Spitze. Weil natürlich auch die Bildungsentscheidungen von Eltern wiederum etwas mit deren Bildungshintergrund, sozialer Herkunft und sozialem Status zu tun haben.

Die Situation belastet zunächst alle. Ob Schüler*innen tatsächlich solche horrenden Bildungsverluste erleiden, daran mögen Zweifel berechtigt sein, entscheidend ist wohl die Frage, wie viel potentiell prüfungsrelevantes Wissen wird nicht erworben. Denn Bildung findet immer statt. Nur eben nicht institutionalisiert. Der eigentliche Stress, so die nächste These, entsteht hauptsächlich dadurch, dass mit meist unzureichenden Mitteln Präsenzunterricht ersetzt werden soll.

Bemerkenswert ist nach all dem Drama um den heiligen Gral des Präsenzunterrichts: die mit Krokodilstränen beweinten benachteiligten Schüler*innen spielen in keinem der Öffnungskonzepte der Bundesländer eine Rolle. Es geht meist nur um die Frage, wer darf eher – die „beginners“ oder die „seniors“, die Lernanfänger*innen in Grundschulen oder die Abschlussklassen. Nichts ist zu lesen über Angebote für Schüler*innen, die zu Hause keine Unterstützung, keinen Schreibtisch haben und denen vielleicht irgend ein gleichzeitig strukturgebendes individuelles Angebot hülfe, zu denen die Lehrenden vielleicht auch zeitweise gar keinen Kontakt aufnehmen konnten. So ein Angebot wäre auch eine lohnenswerte Aufgabe für Lehramtsstudierende, und so etwas ginge durchaus auch digital.

Keine Rolle spielen ebenso die Schüler*innen, deren Herkunftssprache nicht deutsch ist und diese Sprache in den Familien auch nicht gesprochen wird. Diese Schüler*innen werden in ihrem Spracherwerb vermutlich so sehr zurückgeworfen, dass das Aufholen eine größere Aufgabe darstellen wird.

Man darf gespannt sein, was von der Aufmerksamkeit für das Thema Bildungsgerechtigkeit bleibt.

„Ich hätte mir gewünscht, dass ich früher gewarnt worden wäre.“

Dieser Satz ist ein Zitat des sächsischen Ministerpräsidenten in einem insgesamt sehr guten und wie ich meine durchaus „sprengstoffgeladenem“ Interview in der Freien Presse Kretschmer über Corona-Krise: „Wir waren im Herbst noch zu zögerlich“ (freiepresse.de). Ich kann nur wärmstens empfehlen, das Interview vollständig zu lesen, dafür lohnt sich auch der geringe Aufwand eines Testzugangs.

Weiter formuliert Kretschmer, ihm sei nicht klar gewesen, dass „das Personal in Aue schon seit sechs Wochen vor meinem Besuch am 11. Dezember am Limit arbeitete.“ Die gesellschaftliche Stimmung sei im November noch so gewesen dass ihn Bitten erreicht hätten, „doch dieses oder jenes zusätzlich zu öffnen. Mediziner auf Intensivstationen bemängeln zu Recht, dass auch heute noch ein gesellschaftlicher Konsens fehlt.“

Zuerst war ich etwas sprachlos, zugegeben, und dachte nur, was für eine unkluge Aussage. Es gibt sie zwar, diese Chef:innen, die auf die fachliche Kompetenz ihrer Mitarbeiter:innen keinen Deut geben und man sich als Mitarbeiter:in die Finger zuerst wund schreibt und den Mund fusselig redet, es irgendwann dann aber mal sein lässt und beide nicht mehr verbrennt. Dieser Grad an offensichtlicher Uninformiertheit oder Ignoranz lässt sich nicht mehr mit Inkompetenz im Mitarbeiter:innenstab oder fehlendem Vertrauen in selbigen erklären. In so einer dichten Filterblase hätte man vielleicht das Frühjahr überstehen können, nicht aber den Herbst. Auf der Karte von @risklayer war sächsische Landkreise zu der Zeit, als der Ministerpräsident so erschrocken sein will, längst schwarz:

https://twitter.com/risklayer/status/1336789533778714625?s=20

Und Sachsen hatte die Inzidenz-Spitzenreiterposition übernommen:

https://twitter.com/risklayer/status/1336840452750893056?s=20

Warnungen gab es übergenug in den klassischen und den sozialen Medien, der tägliche Pressespiegel dürfte Warnungen genug enthalten haben. Natürlich, es gab und es gibt Gegenwind, es gab und es gibt Menschen, die Corona nicht ernst nehmen, das sind bei weitem nicht nur die so genannten „Covidioten“. Und es gibt diese Menschen natürlich auch in Entscheidungs- und Führungspositionen. An dieser Stelle zeigt sich dann, was (Un)Belehrbarkeit heißt. Natürlich, es sind keine einfachen Entscheidungen, Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen zu verhängen und was Appelle an die Vernunft bringen, davon können Lehrer:innen ein Lied singen. Entscheidungen treffen zu müssen – echte Entscheidungen – sind wohl im Leben von Politiker:innen so ziemlich das Schwerste und Unangenehmste, was ihnen widerfahren kann. Solche Entscheidungen, die unmittelbare Folgen, tatsächliche Konsequenzen haben. Da wartet die eine Ebene gern auf die andere und am allerbesten ist es, wenn Entscheidungen, die zunächst weh tun und unangenehme Folgen haben, jemand anders getroffen hat, man selber „nur“ gezwungen ist, die Entscheidung weiterzugeben oder umzusetzen. Es ist an dieser Stelle unnötig, die ganze Historie des Umgangs mit Corona aufzuarbeiten, das können andere besser.

Herr Kretschmer hat – und das lässt am meisten aufmerken, in diesem Interview sein Kabinett und insbesondere seine Gesundheitsministerin ans Messer geliefert, die Ministerin, die seit Mitte Oktober, seit dem die Ministerpräsidenten sich wie unbelehrbare kleine Jungs aufführten und meinten, der Kanzlerin zu zeigen, dass sie die wahren Landesfürsten sind, erstaunlich still war. Es wird spannend, welche Kreise dieses Interview noch ziehen wird.

Schutzschild für Deutschland – ihr habt da was vergessen

Die Bundesregierung hat das „größte Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik“ beschlossen, mit dem die Auswirkungen der Corona-Pandemie bewältigt werden sollen. Verdienstausfälle, die sich aus dem Schul-und Kitaschließungen ergeben, sollen aufgefangen werden, der Zugang zum Kinderzuschlag erleichtert, ebenso für soziale Leistungen. Kleine Unternehmen, Selbständige, Freiberufler erhalten Unterstützung. Das gilt auch für die Kultur und Kreative https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/hilfen-fuer-kuenstler-und-kreative-1732438. Für soziale Dienstleister gilt der Sicherstellungsauftrag der öffentlichen Hand https://www.bmas.de/DE/Schwerpunkte/Informationen-Corona/sozialschutz-paket.html .

Wer aber in all den Hilfspaketen vergessen wurde, sind die Studierenden. Nicht alle Studierenden beziehen BAföG, wofür die Fortzahlung zugesichert werden soll. Viele, sehr viele Studierende sind darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, in dem sie neben den Studium arbeiten – und sie sind günstige Arbeitskräfte. Sie haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld, meist keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Und sie haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen, wenn der Job weg ist. So manches Unternehmen ob nun in der Gastronomie, im Einzelhandel, in der IT-Branche, die Liste ließe sich noch weiter fortsetzen. Viele dieser Jobs können aufgrund der Umsetzung des Infektionsschutzgesetzes nicht mehr ausgeübt werden. Das heißt, Studierende stehen – genauso wie viele andere auch, vor der Frage wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Ohne Anspruch auf Kurzarbeitergeld, ohne Anspruch auf Sozialleistungen.

Deutschland hat eine ganze Menge Kraft hineingesteckt, den Anteil der Studierenden, die aus weniger einkommensstarken Haushalten kommen, zu erhöhen. Das hat funktioniert. Dass die BAföG-Regelungen verbesserungswürdig ist hinlänglich bekannt. Das betrifft Einkommensgrenzen, das betrifft BAföG-Sätze. Universitätsstädte sind auch meist wirtschaftlich attraktiv, die Lebenshaltungskosten entsprechend. Die Argumentation, die Eltern sollten doch hier einspringen, ist etwas zu kurz gedacht. Die meisten werden das ohnehin schon tun, aber Corona macht auch vor den Auswirkungen von Eltern von Studierenden nicht halt.

Nun. Es ist nicht Ziel der Übung, Existenzfragen gegeneinander aufzuwiegen. Aber: Es wurde einfach mal eine sicherlich nicht kleine Gruppe an Betroffenen vergessen. Sollen sie doch in die Ernte, sollen sie sich einen anderen Job suchen, man hört die verschiedensten Gegenargumente und teilweise schon irrige Vorstellungen. Also: die primäre Aufgabe der Studierenden ist es: das Studium zu absolvieren und zwar zügig und möglichst ohne Verzögerungen. Ein Job ist keine Ausrede, ein Vollzeitstudium heißt nicht aus Spaß Vollzeit-Studium.

Die schöne neue Welt des Homeoffice

Eine Woche im Homeoffice. Dienstlich notwendig die Befassung mit Coronavirus, Covid-19, SARS-CoV-2, meine Filterblase in den sozialen Netzwerken hat verständlicherweise auch kein anderes Thema. Homeoffice ist nicht nur schön, noch lange nicht ist es wirklich etabliert und akzeptiert, oft gilts noch als eine Art Urlaub in Schreibtischnähe. Oder so. Mitnichten ist das so, das Abschalten funktioniert überhaupt nicht und das Hirn scheint sich mit all seiner Autonomie dagegen zu wehren und man ist dann doch irgendwie mit dem Hirn und sich alleine.

Es hätten andere Themen die Tagesordnung bestimmen sollen. Bildungsungleichheit zum Beispiel und auf einmal waren die Schulen zu. Systemrelevanz oder betriebsnotwendig – sind Bildungswissenschaftler systemrelevant oder betriebsnotwendig? Hat das eigentlich irgend einen Sinn, was man tut? Die Frage tut sich auf angesichts derer, die im Gesundheitswesen gegen Mangel und um die Gesundheit von Patienten kämpfen, diejenigen, die sich von unausgelasteten Riesenhamstern im Wettlauf um die letzte Palette Nudeln und Klopapier oder die größte Kettensäge umrennen lassen müssen. Und und und. Systemrelevant. Berechtigt zur Notbetreuung der Kinder. Aber nur, wenn beide Elternteile systemrelevante Berufe haben. So schrieb es zumindest die Allgemeinverfügung im Freistaate Sachsen vor. Völlig unvorhersehbar musste man aber feststellen – systemrelevant für die Gesellschaft ist nicht unbedingt betriebsnotwendig für die Familie. Familien entschieden sich, der Hauptverdiener geht arbeiten. Welch Überraschung. Da hatte man wohl einige Faktoren nicht mit bedacht. Nicht mitbedacht wird wohl auch, ist zumindest zu befürchten beim Homeschoolinghype, dass da nicht nur Linus, Laura und Malte mit den Eltern gemeinsam am Rechner auf der Dachterrasse fröhlich lernend beieinander sitzen, sondern dass es auch Familien gibt, Kinder gibt, deren Umfeld so gar nicht in das Idealbild unserer schönen neuen digitalen Welt passen. Und vermutlich werden, wenn irgendwann einmal wieder sowas wie Normalität eingekehrt sein wird, die Bildungsungleichheiten noch ein bisschen größer sein und wahrscheinlich nicht mehr so ganz viel Aufmerksamkeit bekommen, weil vielleicht andere Probleme größer sind. Vielleicht müssen sich dann auch die Unternehmen nicht mehr kritisch fragen lassen, warum sie Hauptschüler trotz fehlenden Nachwuchses nicht so gern einstellen, vielleicht spielt der Anteil der Schüler*innen ohne Abschluss dann nicht mehr so eine große Rolle weil wieder mehr humane Ressourcen freigesetzt wurden. Vielleicht gibt es dann auch wieder genug Sozialpädagogen auf dem Arbeitsmarkt. weil die öffentlichen Haushalte in Schieflage geraten sind. Früher mal vor langer Zeit hatte ich mal was mit kommunalen Finanzen zu tun, dank Fernstudium gerade wieder und meine Skepsis ob der vielen Versprechen, wer alles mit viel Geld gerettet werden soll, wächst zusehends. Meine Filterblase ist zuweilen verstörend weit weg von den Welten, in denen Menschen Angst vor Kurzarbeit haben, die Existenzängste haben, die von heute auf morgen nicht mehr wissen wo das Einkommen herkommen soll. Es gibt gute Argumente für alle diese Maßnahmen, aber für die Tatsache, dass es ein Szenario, wie wir es heute erleben, seit sieben Jahren gibt, wirken sie seltsam unvorbereitet und unabgestimmt. Und dank zweier Expertinnen in Sachen Statistik sensibilisiert, ärgere ich mich über die Art, wie wir momentan mit Zahlen umgehen. Eine statistische Zahl ohne eine Bezugsgrößen sagt im Grunde nichts weiter aus, als dass es sie gibt. Und das ist nun wiederum fatal.

Die Illusion geicher Bildungschancen

Es hängt alles mit allem zusammen. Zwar beanspruchen „wir“, in einer Gesellschaft zu leben, einer Wissensgesellschaft, in der Leistung zählt, die sich vom Herkunfts- als ordnendes Prinzip verabschiedet hat, in der gewissermaßen jeder die „gleiche“ Chance hat, aufzusteigen wenn er/sie/es nur genug lernt, sich bemüht, anstrengt, etwas „leistet“. Dass dies ein Trugschluss ist, hat die Forschung bewiesen, allerdings, wer hört wirklich darauf? Außer Bildungspolitiker wenn Berichte veröffentlicht werden oder die Wirtschaft, wenn genug oder die richtigen Bewerbenden um die Ausbildungsplätze fehlen? Zweifel an der Meritokratie stellen so einiges in Frage. Richten den Blick auf Privilegien, auf Disktinktion, darauf, dass es mehr Differenzlinien gibt als Diversitätskonzepte vermitteln. Und am Ende auch darauf, dass es gar nicht so viele Chancen gibt, wie gleich oder gerecht verteilt sein sollen oder anders gesagt, die Konkurrenz um das knappe gut gut bezahlter sozial anerkannter und gefragter beruflicher Positionen blenden wir beim Thema Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen gerne aus. Ob nun PISA oder diverse Bildungsberichte oder eine Vielzahl von Studien und Untersuchungen, der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungbiografie – von Erfolgen ganz zu schweigen – der lässt sich immer noch nachweisen.

Es ist noch gar nicht so lange her, Mitte/Ende der Fünfziger Jahre referierten und publizierten Soziologen noch , dass niedere soziale Schichten minderbegabt wären und die Sozialstruktur somit ihre Rechtfertigung in der unterschiedlichen Begabung und somit alles schon seine Ordnung habe. Der Bogen zu Rassenideologien lässt sich auch anhand konkreter Personen spannen. Karl Valentin Müller sei als ein Beispiel genannt. Wenn man also der Frage nachgehen will, warum es so ist, warum es diesen Zusammenhang nach wie vor gibt, man wird an der Frage nicht vorbei kommen, inwieweit latent solche Denkmuster noch eine Rolle spielen.

Auch an der Entzauberung weiterer Illusionen wird man nicht vorbeikommen. Wir glauben gern und hoffen, alles Mögliche steuern zu können. Lassen aber ausser Acht, dass es Prozesse und Entwicklungen und Zustände als Ergebnis sich gegenseitig befördernder Mechanismen gibt, die sich so einfach nicht steuern lassen, nicht zuletzt, weil es gerade im Bereich Bildung Interessen- und/oder Zielkonflikte gibt, deswegen oft im Einzelnen eine Steuerung nicht oder nur um den Preis von Wählerstimmen oder politischen Auseinandersetzungen machbar ist.

Solch Phänomen ist die soziale Segregation, von Städten und von Kindertagesstätten und Schulen, die Entmischung, die im Ergebnis zu einer gewissen Homogenisierung hinsichtlich bestimmter sozialer Merkmale führt und die sich in der Konsequenz erheblich auf Bildungschancen auswirkt. Nun ist die Frage, an welcher Stelle fängt man an, „Bildungsungerechtigkeit“ oder ungleiche Bildungschancen auseinanderzunehmen um letztlich die Möglichkeiten zu identifizieren, die „tatsächlich“ bestehen, steuernd einzugreifen. Und was sind überhaupt Bildungschancen.

Fortsetzung folgt.

#Füßewettbewerb;

der. Die Erfindung einer Grundschule in Bayern, in einer Kleinstadt in der Nähe von Ulm. Jedes Kind, das seinen Schulweg aus eigener Kraft bewältigt, also nicht von den Eltern chauffiert wird, sondern läuft oder radelt, darf am betreffenden Tag ein paar Füße ausmalen. Gewonnen hat das Kind mit den meisten Füßen. Berichtete die Schwägerin zu Weihnachten. Die Neffen machen mit. Ich wollte schon diesen Vorschlag unserer Umweltbürgermeisterin machen weil ich diesen Wettbewerb für eine charmante und pädagogisch wertvolle Methode halte, die durchaus auch die Elterntaxieltern an ihrer Ehre kratzt und die meisten Eltern so ticken, dass sie gerne ihr Kind als Sieger sehen. Und die, die nicht so ticken, fahren ihr Kind auch eher selten in die Schule, also hätten da auch mal Kinder mit weniger engagierten Eltern eine Chance, gewissermaßen ein ungleichheitssensibler Wettbewerb. Sinnvoller als ein beklopptes Lied. Vielleicht schreibt #Dresden ja mal einen #Füßepreis für Schulen aus.
Neben dem #Füßewettbeweb gibt es auch den Wettbewerb des #Nichtmüllfrühstücks und des #Wenigzuckernaschens. Selbstredend. The Winner is: wer den wenigsten Müll in der Frühstücksdose hat. Nix Milchschnitte, nix abgepackter Biomüsliriegel, nix Süßigkeit. Das ist dann aber schon nicht mehr so ungleichheitssensibel, hier brauchts die Eltern.

P.S. Man könnte sogar ein Lied dazu … Wenn Mutti (wahlweise: Vati, Oma, Opa…) mich zur Schul‘ fahr’n will dann sag ich ganz laut nein. Ich fahre lieber mit dem Rad (wahlweise: ich laufe lieber selber hin), da bleibt die Umwelt rein. Muss man aber nicht.

Der Störenfried

Denn Bourdieus Analysen stellen eine doppelte Provokation dar, die häufig von Pädagogen als doppelte Beleidigung wahrgenommen wird. Es ist einerseits die Provokation durch Aufklärung und Objektivierung, die mit den schmerzlichen Desillusionierungen verbunden sein kann. Und es ist andererseits die fundamentale Provokation durch die Wahrnehmung der Kontingenz selbst, der Zufälligkeit, Situativität, Unberechenbarkeit und Unsteuerbarkeit der gesellschaftlichen Praxis und auch der pädagogischen Praxis in ihr, die die Aussicht auf eine aktive, zielgerichtete und erfolgreiche pädagogische Einflussnahme vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Kämpfe als sehr unwahrscheinlich und den Pädagogen selbst als interessierten Akteur in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen erscheinen lässt. Für pädagogische Größenphantasien bleibt da wenig Raum. Als Pädagoge kann man da nur bescheiden(er) werden.
[…]
Aussichtsreicher scheint mir ein anderer Weg: Man muss – empirisch realistisch und mit der gebotenen Skepsis – wahrzunehmen versuchen, was ist und was sich entwickelt (da sind Bourdieusche Ansätze sehr hilfreich), man muss pragmatisch alle Ressourcen suchen und mobilisieren, die erreichbar sind (mit Bourdieu kann man ganz gut darauf kommen, um welche es sich da handeln könnte), und man muss, in fröhlichem Vertrauen auf die trotz allem gegebene substantielle Kraft der Kultur, versuchen, den pädagogischen Alltag und die pädagogische Gegenwart zu kultivieren, in der Makro-, in der Meso- und in der Mikropolitik: da, wo man halt wirken kann. Nur wenn man sich auf die Vermitteltheit einlässt und sich ihr bewusst aussetzt, und nur wenn man um die Grenzen weiß, wird man auch erfolgreich vermitteln und sogar eigenständig Kultur entwickeln können – dann aber schon. Dass das einen großen Plan ergibt und dass dabei genau das herauskommt, was man gewollt hat, sollte man freilich nicht ohne weiteres erwarten. (Liebau, 2009, p. 56)

References
Liebau, E. (2009). Der Störenfried. Warum Pädagogen Bourdieu nicht mögen. In B. Friebertshäuser, M. Rieger-Ladich, & L. Wigger (Eds.), Reflexive Erziehungswissenschaft (pp. 41–58). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91645-3_3

Bildungschancen

„Wir decken gemeinsam mit Kindern den Tisch, wir machen einen gemeinsamen Tischspruch und wir bleiben, wir versuchen mal zehn Minuten am Tisch zusammen zu sitzen und genießen mal das Essen was wir schmecken, und da geht es gar nicht darum, was basteln wir morgen, sondern wir haben gemeinsam gegessen, jeder hatte was zu essen, was Warmes zu essen, wir haben gemeinsam gedeckt und haben gemeinsam abgeräumt, legen uns gemeinsam zum Schlafen hin, wir haben so Rituale, feste Rituale, wir werden beim Einschlafen kurz gestreichelt. Ich denke das ist irgendwie so wichtig, dass man den Kindern vermittelt, dass es das gibt, […] dass sie sich das mitnehmen und vielleicht auch in ihrem späteren Leben doch mal noch andere Sachen wichtig finden.“

Ein zwingendes Argument

„Wir bezeichnen daher mit dem Begriff der objektiven Realität etwas, was wir für universal gültig und für unabhängig von dem halten, was wir tun. Und wir benutzen ihn als ein Argument, um Menschen zu etwas zu zwingen…“ (Maturana, 2000, p. 226)

Maturana, H. R. (2000). Biologie der Realität (1. Aufl). Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft: Vol. 1502. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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