Deutschland und die Bildungs(un)gerechtigkeit. Seit Pisa hoch und runter diskutiert, Corona hat der Debatte wieder Konjunktur verschafft. Ein recht aktuelles Beispiel skizziert, warum die Dinge sind wie sie sind und warum Veränderungen so langwierig und schwierig sind.
Was wissen wir über Bildungsungerechtigkeit. (Wärmstens empfohlen sei der „Mythos Bildung“ von Aladin El-Mafaalani, das Buch enthält alles, was man dazu wissen muss, sollte eigentlich für Bildungspolitiker*innen Pflichtlektüre sein.) Wir wissen, dass die soziale Herkunft und Lebenslage die Chancen auf Bildungserfolg und auf Teilhabe, sprich Chancen auf dem Arbeitsmarkt und ein hohes Einkommen, maßgeblich prägt. Statistisch macht man das oft am Bildungsabschluss der Eltern, v.a. der Mutter fest, an der Zahl der Bücher im Haushalt, der Frage ob Leistungen des SGB in Anspruch genommen werden. In unserer Gesellschaft herrscht das Bild vor, jeder Mensch habe, strenge er sich nur genug an, alle Chancen, nach oben zu kommen. Das ist ein sehr praktischer Mythos, lässt er doch die Verantwortung für den Platz, den jemand in einer Gesellschaft einnimmt, beim Individuum und blendet aus, dass es gesellschaftliche, soziale und psychische Mechanismen gibt, die sich nicht so ohne weiteres überwinden lassen. In der Konsequenz ergibt sich das Bild, arme Menschen seien schon so ein bisschen selbst schuld an ihrer Lage, gibt es doch so viele Maßnahmen, mit denen man ihnen helfen will. Und außerdem braucht eine Gesellschaft ja auch Bäcker oder Gebäudereiniger oder Hauswirtschaftlerinnen. Dieser zynisch anmutende Einschub ist ein Argument, was in bildungspolitischen Debatten so selten gar nicht ist und bei genauerer Betrachtung ist es so: unsere Gesellschaft lebt auch von Ungleichheit – und ein Teil davon ganz gut. Man könnte etwas daran ändern. Das hieße dann aber konsequent Umverteilung von Privilegien.
Und hier kommt die Bildungspolitik ins Spiel. Marcel Helbig hat einmal für Berlin die Schulqualität untersucht. Seine Frage war, „bekommen die sozial benachteiligsten Schüler*innen die besten Schulen?“.
„Insgesamt kommen wir zu dem Befund, dass die sozial am stärksten benachteiligten Schulen auch die ungünstigsten Rahmenbedingungen aufweisen. An sozial benachteiligten Schulen ist die Personalabdeckung schlechter, Unterricht muss häufiger vertreten werden oder fällt aus und an ihnen arbeiten mehr Lehrkräfte ohne Lehramtsstudium als an Schulen mit einer besseren sozialen Zusammensetzung. „ (ebd. S. 25/26)
Es gibt wahrscheinlich für nur sehr wenige große Städte Erhebungen oder Gesamtbetrachtungen zur Schulqualität. Was nicht daran liegt, dass es keine Daten gäbe. Eine solche Betrachtung wäre aber unbequem, denn sie zöge auf verschiedenen Ebenen Entscheidungen nach sich. Nämlich zuerst die grundsätzliche, ob tatsächlich diejenigen, die am meisten Unterstützung brauchen, diese auch bekommen sollen. Ich versichere, die Elternvertretungen würden den Politiker*innen deutlich aufs Dach steigen und genauso die Pädagog*innen und ihre Vertretungen den Ministerien oder Landesämtern. Anekdotische Evidenz aus einer „Gerechtigkeitsrunde“: „Jetzt ging es die ganze Zeit um sozial Schwache. Wir müssen aber auch an die anderen denken. Wir wollen für alle Kinder Bildungsgerechtigkeit“. Eine inhaltsschwere Äußerung.
Manchmal gibt es Gelegenheiten, die es auch ohne solchen politischen Sprengstoff erlaubten, bildungsgerechte Entscheidungen zu treffen. Es ist forschungsseitig gut belegt, dass die Bildungsentscheidungen, die Eltern im Laufe der Bildungsbiografie ihrer Kinder treffen, maßgebliche Weichenstellungen sind und sie treffen diese keineswegs inkompetent. Sondern immer adäquat zu ihrer Lebenslage, ihren eigenen Erfahrungen mit dem Bildungssystem, unter der Fragestellung, ob sie ihr Kind auch gut genug unterstützen können, ob das Kind in der jeweiligen Schule und Schulart auch klarkommt und bestehen kann. Und meistens ist es so, dass Eltern aus prekäreren Milieus ihre Kinder eher bremsen, also selbst bei einer Gymnasialempfehlung sagen, Kind, die Mittelschule ist auch ganz gut. (Das wäre auch nicht tragisch wenn nicht, wenn es dann um berufliche Teilhabe und ein gesichertes gutes Einkommen geht, doch wieder der Abschluss zählt. Es wird manchmal vergessen, dass allein der Erhalt des Status heute einen höheren Bildungsabschluss erfordert als ihn die ältere Generation erbringen musste). Es wäre also ein Weg, bei Bildungsentscheidungen anzusetzen und die Entscheidung in der Grundschule besonders den Kindern und Eltern zu ersparen, von denen eine eher zurückhaltende, bremsende Entscheidung zu erwarten ist. Und – und das wiegt noch schwerer – für die der Zeitpunkt der Entscheidung noch viel mehr zu früh ist. Führt dann ein Bundesland eine Schulform ein, die das ermöglicht, was läge näher, zu frage, wo gehen besonders viele dieser Kinder gemeinsam zur Schule, an welchen Schulen könnten wir denn eine Schulartänderung in Betracht ziehen (wohl wissend dass eine Schulartänderung nicht reicht). Dass damit vielleicht auch ein paar Pädagog*innen motiviert werden könnten, an diese Schule zu kommen und eine Lehrtätigkeit dort nicht abzulehnen und Eltern aus bildungsnahen Milieus der Schulart wegen sich für diese Schulen entschieden hätten wären plausibel vermutbare nette Begleiteffekte.
Aber nein. Gemeinschaftsschulen werden eine Universitätsschule und eine Neugründung. Weit weg von segregierten prekären Gebieten. Ein weiterer Beitrag zur Bildungsexpansion. Nicht aber für mehr Gerechtigkeit.