Es ist heute bereits schwierig geworden, das Problem zu erkennen, das das 18. Jahrhundert bewogen hat, so viel Hoffnung auf Erziehung zu setzen. Wir vermuten, dass es sich um eine sehr genau zu bezeichnende Paradoxie gehandelt hatte. Einerseits hatte man »den Menschen« als Individuum entdeckt (oder: »erfunden«), um mit dieser Figur die alten Einteilungen der Schichtung, der Regionen und Nationen, der Patron/Klient-Verhältnisse, der Berufe und der Konfessionen und Sekten aufzulösen. Sowohl in den Erkenntnistheorien als auch im Bereich der Künste und im Bereich der Moral hatte man, Locke folgend, die Vorstellung angeborener Ideen aufgegeben und damit auch auf die Möglichkeit verzichtet, Geburt als differenzierendes Kriterium für das Erkennen des Guten und Richtigen anzunehmen. Das musste jedoch dazu zwingen, jeden Rückgriff auf unbedingt geltende Standards aufzugeben. Denn solche Kriterien hätten dazu geführt, Meinungskonflikte für rational entscheidbar zu halten mit der weiteren Konsequenz sozialer Diskriminierung. Einige wissen und können es besser als andere, – aber wie das, wenn alle Individuen sind und von Natur aus frei und gleich ausgestattet sind? Kurz gesagt: Absolute Kriterien des Wahren, Guten und Schönen setzen als Sozialform stratifikatorische Differenzierung voraus (was natürlich nicht ausschließt, dass es in jeder Schicht Versager gibt). Die Logik des modernen Individualismus erfordert deshalb den Verzicht auf solche Kriterien. Genau das konnte man aber im 18. Jahrhundert weder sehen noch zugeben. Die Lösung suchte man einerseits mit neuen Unterscheidungen, etwa Lust/Unlust oder Nutzen/Schaden, die das Kriterienproblem hinausschoben und die Vermutung zuließen, es könnte empirisch gelöst werden. […] Und es gab schließlich die Hoffnung auf Erziehung. (Luhmann 1996, S. 16)


Luhmann, Niklas (Hg.) (1996): Zwischen System und Umwelt. Fragen an die Pädagogik. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (/Suhrkamp-Taschenbuch / Wissenschaft] Suhrkamp-Tachenbuch Wissenschaft, 1239).